Abwehrpressing gegen Halbraumzehner-Schlüssel – MX
Nach der Niederlage gegen den VfB Stuttgart in der vergangenen Woche empfängt Juventus Turin dieses Mal mit Parma eine weitere unterschätzte Truppe. Die alte Dame dominiert die Partie über weite Strecken, bespielt die Schwachstellen von Parma sehr gut, dennoch reicht es nur für ein 2:2.
Mottas flache Viererkette
Gerade in der Anfangsphase der Partie baute Juventus Turin zumeist im Aufbau aus höherer Position aus einem flachen 4-3-3 auf. In der Ausgangsformation agierte man, wenn die Innenverteidiger Gatti oder Danilo den Ball hielten, in einer symmetrischen Anordnung mit klaren Abständen auf beiden Seiten. Besonders auffällig war, dass die Außenverteidiger Cabal und Cambiaso auf einer Linie mit den beiden Innenverteidigern agierten. Diese flache und tiefe Positionierung ermöglichte es den Außenverteidigern, einen gewissen Zeitvorteil gegenüber den direkten Gegenspielern im mannorientierten Pressing des Gegners zu erarbeiten.
Die Gäste aus Parma verteidigten bei Ballbesitz von Juventus meist mit einer Viererkette hinter einer hängenden Spitze und einem Mittelstürmer. Das grundsätzliche Ziel war es, die Außenspieler im Deckungsschatten auf die breit angeordneten Flügelspieler von Juve zu halten, um ein direktes Eröffnen auf diese 1v1-Spieler über einen Diagonalball der Innenverteidiger zu unterbinden. Allgemein wollte man Kompaktheit in den ersten beiden Linien herstellen und Juventus durch die beiden zentralen Stürmer auf die Außenverteidiger leiten. Dabei isolierte man den ballfernen Stürmer, um den Sechser zu blockieren, während auch die Halbraumzehner eng mannorientiert wurden und deren Abkippbewegungen antizipiert wurden. Die Kompaktheit war entsprechend hoch, das Verschieben gut, wenn auch nicht übermäßig intensiv, sondern bewusst.
Die ersten Aufbaumomente verliefen dann auch so, wie es sich Parma vorgestellt hatte. Man lenkte den Innenverteidiger durch das kompakte 4-4-1-1 auf den Außenverteidiger, der dann einerseits vom direkten Außenspieler – Man oder Mihaila – angelaufen wurde. Diese hatten jedoch, wie bereits beschrieben, immer einen gewissen Zeit- und Raumnachteil aufgrund des Kompaktheit-Fokus. Andererseits versuchte der Stürmer, der den Außenverteidiger anvisierte, auch den ballnahen Innenverteidiger weiter zu isolieren und den Rückpass zu verhindern. Die Halbraumzehner von Juve schoben typischerweise extrem weit auf die Flügel, um Unterstützung aus dem Zentrum zu schaffen. Diese wurden jedoch, ebenso wie der Sechser, jeweils eng mannorientiert. So blieb nur der Vertikalball zu Weah oder Conceição, die am Flügel agierten. Parma war logischerweise darauf vorbereitet, und die Außenverteidiger suchten extrem aggressiv und schnell den Zweikampf. Weah wirkte zu Beginn der Partie besonders unglücklich in diesen Duellen; er verlor direkt im ersten Duell den Ball, und Außenverteidiger Cabal vermied fortan das Spiel in diese Druckregion, was sich im gesamten Spielverlauf negativ auswirkte und in 10 Ballverlusten ausdrückte.
Improvisierte Muster im Aufbau
Juve fand jedoch relativ schnell eine improvisierte, aber effektive Lösung für dieses Problem. Die Innenverteidiger erkannten, dass die Schwachstelle im Pressing von Parma die beiden Stürmer waren. Diese zeigten einerseits nur wenig Intensität im Pressing und ließen sich andererseits ballfern viel zu weit von Locatelli in der Mannorientierung mitziehen. In der Folge dribbelten die Innenverteidiger gelegentlich auf die Flügel, als wollten sie einen Pass zum Außenverteidiger spielen. Oft suchten sie jedoch die Verlagerung zum anderen Innenverteidiger. Das hatte zur Folge, dass dieser schlichtweg keinen Druck verspürte, da der ballferne Stürmer sich eben immer wieder zu weit von Locatelli mitziehen ließ.
Ein entscheidendes Passmuster ergab sich aus dieser Positionierung: Der Innenverteidiger überdribbelte die erste Pressinglinie von Parma und spielte den Pass in den Druck zu dem abkippenden Halbraumzehner. Dieser fand dann über ein Ablagespiel den Sechser. Damit war das Ablagespiel per Excellence vollzogen. Eigentlich mit dem Moment, wo man das erste Mal darüber den Weg ins zweite Drittel fand, drehte sich die Dynamik im Spiel extrem zu Seiten der alten Dame. Der gegnerische Sechser ist sowas wie das rote Tuch gegen ein 4-4-2-Mittelfeldpressing, denn kann dieser gefunden werden, dann öffnen sich eigentlich immer anderswo Räume und das ist gegen einen solchen Gegner logischerweise tödlich.
Insgesamt überzeugte das Bewegungsspiel von Juve in der Folge. Besonders gefiel, dass Juventus zudem auch immer wieder ballfern über ein Dreieck aus Thuram, Cabal und Weah eine Überzahl gegen Außenverteidiger Hainaut und Außenspieler Man herstellte. Dies war allerdings nur möglich, weil Thurams direkter Gegenspieler ihm diese Breite durchaus gewährte. Spielte Juve dann den Pass in diese Zone, war der Raumnachteil für den Gegner fast nicht mehr aufzuholen. Diese Situation brachte gerade Weah zurück in die 1-gegen-1-Duelle. Er bevorzugte es, den Ball eher diagonal in den Fuß gespielt zu bekommen, anstatt sich erst aufdrehen zu müssen, wie im oben beschriebenen Aufbaumuster.
Pecchia stellt auf Dreierkette um, Motta antwortet
Fabio Pecchia reagierte nach 20 Minuten trotz Führung mit einer Umstellung. Fortan agierten sie statt im 4-4-1-1 oder auch 4-4-2 im 3-4-3. Diese Änderung war insbesondere gruppentaktisch in der ersten Pressinglinie sinnvoll. Durch die Dreierreihe konnten die Innenverteidiger besser und direkter angedrückt werden, während ballfern die Mannorientierung auf Locatelli gesetzt wurde. Zudem konnte man die Flachheit der Außenverteidiger von Juve früher unter Druck setzen. Wenn Cabal oder Cambiaso höher schoben, übernahm die zweite Pressinglinie die Mannorientierung.
Allerdings war diese Problemlösung auch eine Problemverlagerung. Die Dreierkette in der Abwehr musste nun die extrem breiten Flügelspieler situativ verteidigen, was immer wieder Zwischenräume öffnete, die vor allem von den durchschiebenden Halbraumzehnern und auch Vlahovic genutzt wurden.
Mottas Elf ließ das natürlich nicht unbeantwortet. Im Aufbauspiel boten sich die Außenverteidiger nun etwas anders an; der ballnahe schob zwar immer wieder neben einen der Innenverteidiger und agierte in einer Dreierlinie, ballfern schob der Außenverteidiger in den Zwischenlinienraum zwischen der Abwehrlinie und der Mittelfeldlinie. Dadurch bildete Juve ein 2v1 gegen die Schienenspieler bzw. die Außenspieler im System. Wodurch Parmas 3-4-3 nicht mehr optimalen Zugriff hatte, da sich die Linien automatisch etwas nach hinten verschoben, um die Überzahl zu redundieren. Dadurch konnte Juve ein paar Mal das Pressing umspielen, vor allem die Halbraumzehner immer wieder im Halbraum etwas Raum gewinnen und danach diagonal nach vorne kommen zum Flügelspieler und dem hinterlaufenden Außenverteidiger. Natürlich half dabei auch die individuelle Qualität Thuarams oder McKennies am Ball, der einige Pressingaktionen zunichte macht.
Juves Pressing
Gegen den Ball agierte Juve in einer typischen 4-1-4-1-Staffelung gegen das 2-4-1-3 von Parma. Häufig agierten die Flügelspieler von Juve jedoch höher und liefen die auffächernden Innenverteidiger an. Aus der ursprünglich mannorientierten Anordnung ergab sich logischerweise die Situation, dass die Außenverteidiger ohne direkten Gegenspieler waren und die Flügelspieler essenziell den Deckungsschatten halten mussten. Dies gelang in der Regel sehr gut – Parma stand sofort unter Druck. Vlahovic isolierte meist den ballnahen Sechser, so entlastete er einer der Halbraumzehner, die so raumorientierter agieren konnten und notfalls auch auf den Außenverteidiger so zugreifen könnten.
Wenn die Flügelstürmer im Angriffspressing von Juventus herausrückten – häufig war es Weah auf links – wurden die Mechanismen zur Sicherung des Flügels und zur Intensivierung des Pressings deutlich. Der ballnahe Flügelstürmer lief im Bogen den Innenverteidiger an und versperrte mit Deckungsschatten den Passweg zum Außenverteidiger. Der Innenverteidiger konnte somit nur quer zum anderen Innenverteidiger spielen, während Juves Mittelstürmer auf diesen Pass lauerte und mit Deckungsschatten auf den Sechser anlief oder bei größeren Abstand der andere Flügelspieler mit Deckungsschatten auf den Außenverteidiger anlief. Spielte Parma in die Mitte auf die Sechser, geriet man sofort unter Druck durch Thuram, McKennie oder eben Vlahovic. Einzig direkte Pässe der zentralen Spieler auf den Außenverteidiger über Ablagespiele umspielten konstant dieses Pressing, was Parma jedoch selten versuchte.
Wenn dies doch geschah, rückte der ballnahe Halbraumzehner kurzzeitig auf den Flügel und setzte das Pressing fort, gelegentlich auch mit Unterstützung des Außenverteidigers. Die ballfernen Halbraumzehner und Flügelstürmer schoben weit zum Ball und stellten große Kompaktheit her, während der aufgerückte Flügelstürmer sich zurückorientierte und Passoptionen zustellte.
In einzelnen Situationen konnte der Mittelstürmer Vlahovic ebenfalls das Pressing auslösen. Dies geschah meist, sobald Parma etwas höher aufbaute und die Innenverteidiger relativ weit auffächerten und dazu so durch Bogenlauf voneinander isoliert werden konnten, wodurch die Flügelspieler sich eher auf die gegnerischen Außenverteidiger fokussierten. Allgemein implementierte sich dann ein noch deutlicheres mannorientiertes System. Versuchte ein Innenverteidiger die erste Pressinglinie, wenn der Abstand der Flügelstürmer es zuließ, zu überdribbeln – was auch oft stellenweise gelang – rückte Juve nicht unbedingt aus der Kompaktheit heraus, vielmehr suchte man dann schnell das taktische Foul.
Gegenschlag des Gegenschlags ist gefährlich
Im Auswärtsspiel beim Meisterschaftskandidaten formierten sich die Elf aus der Emilia-Romagna zwar in einem Abwehrpressing, agierten nach Ballgewinn jedoch enorm vertikal und mutig. Juve erlaubte sich beim Spiel unter Druck einige zentrale Ballverluste, und Parma suchte sofort den Umschaltmoment, wobei nahezu alle Spieler – außer den Innenverteidigern und dem Sechser – sofort in die Tiefe rückten. Der Fokus lag dabei insbesondere auf den durchschiebenden Halbraumzehnern, die sich im Rückraum platzierten, in der Hoffnung, dass Juve diese erst in zweiter Linie verteidigte.
Dieser Umschaltfokus mit den schnell aufrückenden Flügelstürmern und der Suche nach den zentralen Spielern im Vorwärtsspiel scheiterte jedoch häufig. Juve eroberte den Ball schnell zurück und konnte den Raum, den die zentralen Mittelfeldspieler durch ihr Aufrücken offen ließen, bespielen. Sozusagen sah man oft den Gegenschlag des Gegenschlags.
Unglücklicher Punkt für Juve und Parma
Inmitten dieser Druckphase, kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit, konnte Parma trotz des Ausgleichs von McKennie per Ecke in der 31. Minute erneut die Führung übernehmen und erzielte in der 40. Minute das 2:1. Nach der Pause gelang Juventus der erneute Ausgleich: Ein dynamischer Konter über Thuram, der sich mit einem Solo durchsetzte, endete mit einem Abschluss von Weah, der Parmas zentrale Schwachstelle nach einem Ballverlust eiskalt ausnutzte.
Auch im weiteren Verlauf blieb das Spielgeschehen unverändert. Juventus dominierte mit zahlreichen Ballbesitzphasen und verbuchte einen beachtlichen xG-Wert von 2,43 bei insgesamt 24 Torschüssen. Dennoch haperte es an der Chancenverwertung. Parma verteidigte den Punkt durch gute Boxverteidigung, während Juve zunehmend ins Risiko ging. Die Außenverteidiger agierten äußerst hoch und aggressiv, wodurch Parma immer wieder gefährliche Entlastungsangriffe über die Flügel inszenieren konnte. Kurz vor Schluss bot sich Gabriel Charpentier nach einem dieser Konter die Gelegenheit zum entscheidenden Treffer, doch er vergab die große Chance, den Coup perfekt zu machen.
MX hat sich ursprünglich schon in früher Jugend im Positionsspiel à la Pep Guardiola verloren, doch jetzt hat ihn auch der Relationismus komplett gepackt. Seine Texte geistern auf Der-Jahn-Blog und miasanrot rum. Im NLZ von Jahn Regensburg hat er seine Spuren hinterlassen, aber seit ein paar Wochen treibt er sein Unwesen bei einem anderen bayerischen Team.
5 Kommentare Alle anzeigen
AG 7. November 2024 um 11:52
Ein interessanter Artikel, aber eine typische Leerstelle fällt mir auch hier auf: so interessant die Aufbaustruktur und das bespielen des Pressings ist, so fehlt doch die andere Seite. Wie erspielen sich die Teams ihre Abschlüsse? Das ist ja ein zentraler Aspekt für die Bewertung von Mannschaften, und lässt auch eine bessere Kopplung zu xG und anderen „moderneren“ Statistiken zu. So sehr ich mich freue, wenn die (zumindest einer Seite) aufgeführt werden, bleibt der Wert in diesem Artikel unverbunden weil unhergeleitet.
MX 7. November 2024 um 20:16
Danke für das Feedback! Nimm ich auf alle Fälle mit in die Zukunft. Hoffe, dass es dir dennoch gefallen hat. Ich bin tatsächlich sehr auf Strukturen, Raumbesetzung und Muster fokussiert, sodass ich oft die Torerzielungsmuster etwas in den Nebenfokus rücke. Das ist mir aber auch erst so mit deinem Feedback bewusst geworden – daher: Danke!
Zu Regensburg: Hab aktuell etwas neues begonnen und bin daher nicht mehr so oft vor Ort, wodurch ich auch nicht mehr so zum Analysen schreibe komme. Und dann wenn ich mich zuletzt zwischen Juve bspw. und dem Jahn entscheiden musste…ja, dann sah ich meistens Juve genauer an 😉
Aber ich setz mich vielleicht dran, ehe die Trainerfrage geklärt ist!
Grüße und schönen (Fußball-)Abend
tobit 8. November 2024 um 07:08
Gegenpunkt: Es muss nicht immer alles eine ganzheitliche und umfassende Analyse sein. Oft ist das Beleuchten von ein oder zwei Aspekten auch sehr interessant und erhellend. (Ich bin auch ein großer Fan von Strukturen und Mustern abseits des gegnerischen Tors)
AG 8. November 2024 um 11:28
Nur zur Klarstellung möchte ich unterstreichen, dass ich keine Torrückschau möchte – wie typisch für SV dürfen die Tore auch unerwähnt bleiben. Aber die Strategien für Abschlüsse, wenn wiederkehrend, also wie die Teams Spiel für Spiel versuchen, zu Abschlüssen (oder doch später Toren) zu kommen, das halte ich für spannend und einer Analyse wert.
tobit 8. November 2024 um 17:29
Grundsätzlich ja, Chancenkreation ist halt auch echt ein spannendes Thema. Braucht aber halt auch nicht in jeder Analyse drin sein. Und leider sind da viele Teams auch nicht so geeignet für, darüber eine Analyse von Strukturen und wiederkehrenden Mustern zu machen, weil sie wenig davon haben bei der Chancenkreation. Bzw artet das dann oft eher in eine Spieleranalyse des Dreh- und Angelpunkts aus.