Hansi Flick – Was ist das? – FN

Nach der doch etwas kuriosen Entlassung und dem vorausgegangenen Rücktritt vom Rücktritt verließ Vereinslegende Xavi in diesem Sommer letztlich seinen Herzensklub Barcelona. Die Wahl des Nachfolgers fiel auf den zuletzt vereinslosen ehemaligen Bundestrainer Hansi Flick. In Katalonien steht er trotz des historischen Sextuple-Gewinns mit den Bayern vor der vielleicht größten Aufgabe seiner Trainerkarriere: Trotz großer finanzieller Probleme eine neue Ära beim spanischen Giganten einzuleiten.

Nach fünf Siegen aus den ersten fünf Ligapartien und Platz eins in der Tabelle scheint es, als würde sich Flick als absoluter Glücksfall für Barcelona entpuppen. Doch wie lässt Flick spielen und wie vereint er seinen vertikaler Hochintensitätsfußball mit dem katalanischen Tiki-Taka?

Vertikal ins letzte Drittel

Wie bereits erwähnt, legt Flick großen Wert auf Vertikalität im Spielaufbau und priorisiert den geordneten Aufbau nicht um jeden Preis. Eines der Grundprinzipien von Flicks Aufbauspiel ist es deshalb, so wenige Spieler wie nötig in den tiefen Spielaufbau zu involvieren, um durch hohe Positionierungen eine starke Gegnerbindung zu erreichen und bei schnellem Spiel in die Spitze Überzahl zu schaffen.

Im tiefen Spielaufbau wird aus einem 4-1-2-3 heraus aufgebaut. Durch die breite Positionierung der Innenverteidiger und das proaktive Spiel des Torhüters, der als zusätzliche Anspielstation in der ersten Linie dient und eine +1-Überzahl gegen mannorientiertes Pressing erzeugt, wird die Formation gestärkt. Die beiden Außenverteidiger schieben in der Breite in die zweite, teils sogar in die dritte Linie und sorgen dort für Gegnerbindung. Dadurch entsteht eine Raute im Zentrum des Spielaufbaus mit dem ballführenden Torhüter und dem als Anker agierenden Sechser an der Spitze.

Die durch das Hochschieben der Achter, das Einrücken der Außenspieler und das Breitenstellen der Außenverteidiger in der zweiten Linie erzeugte Gegnerbindung hat zur Folge, dass Gegner sich für ein raumorientiertes Pressing entscheiden. Folglich wird nur noch mit zwei Spielern in der ersten Linie angelaufen, was es Barcelona ermöglicht, durch Rautenbildung ein 4-gegen-2 auszuspielen.

aus der 5. Minute im Spiel Barcelona – Bilbao

Sollte der Gegner weiterhin einen mannorientierten Pressingansatz wählen, wird versucht, durch leicht versetztes Abkippen des linken Achters neben den Sechser und leichtes Abkippen des ballnahen Außenverteidigers das Angriffspressing zu überwinden. Die Rolle dieses linken Achters hatte zumeist Pedri inne. Er dient als zusätzliche Klatsch-Option im Zentrum mit dem Ziel, den freien Mann hinter dem Pressing zu finden und sich aus dem Druck zu lösen. Dadurch entsteht eine 2-gegen-1-Situation des empfangenden Innenverteidigers und des ballnahen Außenverteidigers.

aus der 27. Minute im Spiel Barcelona – Valladolid

Dennoch wird das gegnerische Angriffspressing nach vorausgehendem Locken des Pressings häufig auch sehr direkt mit gezielten langen Bällen in die letzte Linie überspielt. Durch einrückende Außenspieler und nachrückende Achter rund um den als Fixpunkt agierenden Lewandowski werden kurze Abstände zwischen den Spielern erzeugt, um nach Ballverlust direkt ins Gegenpressing zu kommen und durch hohe Ballgewinne möglichst viel Raum zu überbrücken und, wenn möglich, direkt mit Zug zum Tor umzuschalten.

fluides Angriffsspiel

Sobald Barcelona den eigenen Spielaufbau überbrückt hat und ins Angriffsspiel übergeht, legt Flick großen Wert auf Bewegungen und Positionsrotationen mit vielen Freiheiten für den Einzelnen im Gegensatz zum strikten Positionsspiel unter Ex-Trainer Xavi.

Häufig wird versucht, das Zentrum durch einrückende Außenspieler zusätzlich zu den sich im Zwischenlinienraum befindenden Achtern zu überladen. Die Außenverteidiger, speziell Balde auf der linken Seite, der immer wieder den Raum auf der Außenbahn aus der Tiefe beläuft und für gefährliche Hereingaben sorgen kann, agieren infolgedessen als Breitengeber in der letzten Linie. Die Rolle des Rechtsverteidigers, im Normalfall von Koundé bekleidet, wird etwas konservativer interpretiert. Ein Hauptgrund dafür ist, dass Yamal auf der rechten Seite nicht konstant im Halbraum agiert und auch häufiger die Breite hält, um seine Stärken im 1-gegen-1 auf dem Flügel auszuspielen und anschließend vom Flügel nach innen zu ziehen. Durch das Vorderlaufen des rechten Achters sowie von Koundé aus der tiefen rechten Halbspur und das Zusammenziehen des gegnerischen Blocks kann Yamal so immer wieder in 1-gegen-1-Situationen isoliert werden. Durch diese etwas konservativere Positionierung Koundés wird ein asymmetrischer 3+1-Aufbau mit sechs Spielern in der letzten Linie erzeugt, der für eine hohe Gegnerbindung sorgt. Koundé füllt in diesem Szenario auch gerne in der zweiten Linie auf, um das Zentrum weiter zu überladen.

aus der 14. Minute im Spiel Barcelona – Bilbao

Doch wie bespielt Barca dieses Cluster an Spielern im Zentrum? Die spielstarken Innenverteidiger suchen stets den Weg nach vorne und versuchen durch vertikale Laserpässe in den Zwischenraum, die erste Pressinglinie zu durchbrechen. Durch eine sehr hohe Fluidität in den Positionen und viele Gegenbewegungen, wie von Pedri, der gerne neben den Sechser als zusätzliche Anspielstation in der zweiten Linie, aber auch außerhalb des Blocks abkippt und so Räume für Mitspieler freizieht, werden Räume geöffnet. Eine weitere Schlüsselrolle kommt hier dem vom linken Flügel einrückenden Raphinha zu. Er taucht nahezu überall im Zentrum auf und agiert in einer Art Schattenstürmerrolle. Durch geschickte Gegenbewegungen des Duos Raphinha-Lewandowski kann der gegnerische Block vertikal auseinandergezogen und der Zwischenraum bespielt werden. Durch diese Tiefenläufe bietet sich für die Innenverteidiger auch immer wieder die Möglichkeit, einen Chipball über den gegnerischen Block zu spielen, um direkt vertikal in die Spitze zu spielen. Dieses Muster erkannte man bereits beim 7:0-Sieg gegen Real Valladolid bei den Toren zum 1:0 und 2:0.

Das Tor zum 1:0 aus der 20. Minute im Spiel Barcelona – Valladolid

Nachdem der Zwischenraum bespielt wurde, wird versucht, durch die kurzen Abstände zwischen den einzelnen Spielern in diesem Cluster mit schnellen Kombinationen die eigene technische Überlegenheit auszuspielen. Ein wichtiger Teil davon ist das Prinzip „toco y me voy“ aus dem Relationsspiel, auch bekannt als „Spiel und Geh“. Durch die ständigen neuen Positionierungen und das Ablagespiel abkippender Spieler kann dies in engen Räumen eine Waffe sein. Flick bedient sich hier im Zentrum mehrerer Elemente aus dem durch Fernando Diniz geprägten Relationsspiel, auch wenn nicht so stark ballseitig verschoben wird und die Überladungen hauptsächlich im Zentrum erfolgen. Gepaart werden diese Freiheiten im Angriffsspiel mit festen strukturgebenden Abläufen aus dem Positionsspiel.

In der nachfolgenden Szene aus dem Spiel gegen Valladolid kann sich Olmo durch einen linienbrechenden Pass der Innenverteidiger unter Druck aufdrehen. Durch das Nachrücken von Raphinha und Pedri sowie das Ablagespiel Lewandowskis werden enge Abstände hergestellt und das Kombinationsspiel auf engem Raum gefördert. Von dort aus wird sehr direkt Richtung Tor gespielt.

Flick-typisches Angriffspressing

Wie für Hansi Flick schon zu Bayern-Zeiten typisch, setzt er auch bei Barcelona auf ein enorm aggressives mannorientiertes Angriffspressing mit klaren Pressingfallen. Charakteristisch für Flicks Spiel gegen den Ball ist vor allem die hohe Intensität gegen den Ball und die Höhe des Pressings.

Trotz des mannorientierten Anlaufens liegt stets der Fokus auf einer +1-Überzahl in der letzten Linie. Folglich wird in einer -1-Unterzahl im Angriffsdrittel agiert. Nach gegnerischen Abstößen ist das Ziel Barcelonas, von außen nach innen zu pressen und so das Spiel in das durch Mannorientierungen im Mittelfeld und die enge Positionierung geschlossene Zentrum zu lenken oder lange Bälle in die eigene Überzahl in der letzten Linie zu erzwingen. Lewandowski agiert im Angriffspressing mannorientiert zum gegnerischen Sechser. Die beiden Achter agieren ebenfalls mannorientiert zu den anderen beiden Mittelfeldspielern des Gegners. Durch Lewandowskis zurückgezogene Rolle wird eine Überzahl im Zentrum hergestellt, und Barcelonas Sechser kann zwischen letzter Linie und Mittelfeld schwimmen und je nach Spielsituation im jeweiligen Mannschaftsteil für Überzahl sorgen, aber auch abkippende Angreifer zwischen den Linien aufnehmen.

In erster Linie wird vorerst nur mit den beiden Außenstürmern gepresst. Diese pressen vorerst im Raum zwischen den Innen- und Außenverteidigern, um das Spiel in die Breite zu unterbinden. Der Linksaußen agiert hierbei deutlich aggressiver als der Rechtsaußen Yamal, der nur in seltensten Fällen auf den Innenverteidiger springt. Der Linksaußen presst bei Ballbesitz des rechten Innenverteidigers aggressiv durch den Ballführenden und zwingt diesen zum Rückpass zum Torhüter. Von dort wird weiter durchgeschoben und Druck auf den Torhüter ausgeübt, was zu einem langen Ball in die Überzahl in der letzten Linie führt.

aus der 13. Minute im Spiel Barcelona – Bilbao

Durch dieses Druchschieben des Linksaußen entstehen große Räume für den Rechtsverteidiger des Gegners, welcher durch Chipbälle des Torhüters oder Seitenwechsel bespielt werden kann. Abgesichert wird dieses Anlaufen durch den linken Außenverteidiger, der erst auf Höhe der Mittelfeldlinie im Raum positioniert ist und bereit ist, auf den Außenverteidiger zu springen, sobald der Linksaußen auf den Torhüter durchschiebt oder durch einen gechippten Pass auf den Außenverteidiger ausgelöst wird. Der rechte Verteidiger hingegen ist in der letzten Linie zurückgezogen, um dort die +1-Überzahl herzustellen, und springt nur in den seltensten Fällen auf den gegnerischen Außenverteidiger. Der Rechtsaußen hat somit eine Doppelverantwortung und muss durch geschickte Positionierung den Außenverteidiger in den Deckungsschatten nehmen, darf aber gleichzeitig den Abstand zum Innenverteidiger nicht zu groß werden lassen, um ein Zuspiel auf diesen zu verhindern und so das Angriffspressing aufrechtzuerhalten und die Überzahl in der letzten Linie zu kompensieren.

Ein weiteres Schlüsselelement Flicks Ansatz gegen den Ball ist das Gegenpressing. Dieses wird durch die im Abschnitt „fluides Angriffsspiel“ bereits thematisierten engen Abstände im eigenen Ballbesitz gefördert. Nach Ballverlust wird sofort mit hoher Intensität defensiv umgeschalten und sowohl von den Offensivspielern rückwärts gepresst als auch von den Spielern hinter dem Ball aggressiv nach vorne verteidigt. Durch dieses intensive Gegenpressing ist es Barcelona möglich den Ball in den eigenen Reihen zu halten, sich in der gegnerischen Hälfte festzusetzen und nach hohem Ballgewinn sofort wieder in ihr Kombinationsspiel auf engem Raum zu kommen.

Potenzielle Probleme unter Flick

Doch Hansi Flicks Barcelona ist keinesfalls fehlerlos. Durch den starken Zentrumsfokus im Pressing besteht, gerade durch das zögerliche Rausschiebeverhalten des Rechtsverteidigers, die Möglichkeit, dass Gegner das Pressing provozieren, den Rechtsaußen locken und durch gezielte Chipbälle hinter den Rechtsaußen den offenen Raum mit dem eigenen Linksverteidiger bespielen. Durch das Überladen dieser Seite können Anspielstationen geschaffen werden, und es ist möglich, sich aus dem katalanischen Angriffspressing zu lösen.

Eine weitere Möglichkeit wäre, beide Außenverteidiger hochzuschieben, um so den Flügel doppelt zu besetzen und eine 2-gegen-1-Situation auf der Außenbahn zu erzeugen. Durch den anderen Außenverteidiger kann ballfern für Gegnerbindung gesorgt und eine Überzahl Barcelonas in der letzten Linie vermieden werden. Ziel ist es dann, diese Überzahl auf dem Flügel durch lange Bälle auf die Außenbahn auszunutzen, um Kontrolle über das Spiel zu erlangen oder über zweite Bälle direkt vertikal in die Spitze zu spielen.

Auch die zu Bayern-Zeiten Dauerthema gewesene riskante Restverteidigung Flicks könnte im Laufe der Saison wieder zum Thema werden. Im Gegensatz zu vielen Teams, die heutzutage aufgrund der hohen Kompaktheit nach Ballverlust das Spiel mit fünf Spielern aus einem 3-2- oder 2-3-Aufbau eröffnen, baut Barcelona aufgrund der bereits erklärten zentralen Überladungen nur mit vier Spielern auf. Hinzu kommt das Vorderlaufen des Rechtsverteidigers aus der Tiefe, was für noch weniger Absicherung sorgt.Durch die hohe Positionsfluidität kann es außerdem passieren, dass zu viele Rotationen ohne das richtige Timing gleichzeitig stattfinden und dadurch gefährlich große Lücken nach Ballverlust entstehen.

Fazit

Mit der Verpflichtung von Hansi Flick scheint es, als hätte der FC Barcelona den richtigen Trainer zur richtigen Zeit gefunden. Flick zeigt bereits in den ersten Spielen große Veränderungen im Vergleich zu seinem Vorgänger Xavi, gerade die hohe Fluidität und die vielen Rotationen mit dem Ball unterscheiden sich deutlich von Xavis striktem Positionsspiel. Auch gegen den Ball sind Veränderungen in der Art des Pressings, aber auch in der Intensität bemerkbar.

Neben seinem hochintensiven Pressingfußball bringt Hansi Flick bei seiner neuen Station auch einige hochspannende neue Elemente aus dem Relationsspiel mit ein und kombiniert diese Ideen im Angriffsspiel mit klassischen Breitengebern und festen Abläufen aus dem Positionsspiel.

Dennoch läuft, auch wenn es im Moment so scheint, noch nicht alles fehlerfrei, speziell im Pressing und in der Restverteidigung.Es bleibt abzuwarten, wie schnell die Konkurrenz in Spanien diese Schwächen auszunutzen weiß und wie darauf reagiert wird.Hansi Flick beim FC Barcelona ist nichtsdestotrotz ein hochspannendes Projekt im europäischen Fußball, das man definitiv im Auge behalten sollte.

Autor: FN beschäftigt sich mit intensiv mit Taktiktheorie als auch Analysen zu aktuellen Spielen und Entwicklungen im Fußball. Auf Twitter ist er als @felixnb aktiv.

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