Hansi Flick – Was ist das? – FN
Nach der doch etwas kuriosen Entlassung und dem vorausgegangenen Rücktritt vom Rücktritt verließ Vereinslegende Xavi in diesem Sommer letztlich seinen Herzensklub Barcelona. Die Wahl des Nachfolgers fiel auf den zuletzt vereinslosen ehemaligen Bundestrainer Hansi Flick. In Katalonien steht er trotz des historischen Sextuple-Gewinns mit den Bayern vor der vielleicht größten Aufgabe seiner Trainerkarriere: Trotz großer finanzieller Probleme eine neue Ära beim spanischen Giganten einzuleiten.
Nach fünf Siegen aus den ersten fünf Ligapartien und Platz eins in der Tabelle scheint es, als würde sich Flick als absoluter Glücksfall für Barcelona entpuppen. Doch wie lässt Flick spielen und wie vereint er seinen vertikaler Hochintensitätsfußball mit dem katalanischen Tiki-Taka?
Vertikal ins letzte Drittel
Wie bereits erwähnt, legt Flick großen Wert auf Vertikalität im Spielaufbau und priorisiert den geordneten Aufbau nicht um jeden Preis. Eines der Grundprinzipien von Flicks Aufbauspiel ist es deshalb, so wenige Spieler wie nötig in den tiefen Spielaufbau zu involvieren, um durch hohe Positionierungen eine starke Gegnerbindung zu erreichen und bei schnellem Spiel in die Spitze Überzahl zu schaffen.
Im tiefen Spielaufbau wird aus einem 4-1-2-3 heraus aufgebaut. Durch die breite Positionierung der Innenverteidiger und das proaktive Spiel des Torhüters, der als zusätzliche Anspielstation in der ersten Linie dient und eine +1-Überzahl gegen mannorientiertes Pressing erzeugt, wird die Formation gestärkt. Die beiden Außenverteidiger schieben in der Breite in die zweite, teils sogar in die dritte Linie und sorgen dort für Gegnerbindung. Dadurch entsteht eine Raute im Zentrum des Spielaufbaus mit dem ballführenden Torhüter und dem als Anker agierenden Sechser an der Spitze.
Die durch das Hochschieben der Achter, das Einrücken der Außenspieler und das Breitenstellen der Außenverteidiger in der zweiten Linie erzeugte Gegnerbindung hat zur Folge, dass Gegner sich für ein raumorientiertes Pressing entscheiden. Folglich wird nur noch mit zwei Spielern in der ersten Linie angelaufen, was es Barcelona ermöglicht, durch Rautenbildung ein 4-gegen-2 auszuspielen.
Sollte der Gegner weiterhin einen mannorientierten Pressingansatz wählen, wird versucht, durch leicht versetztes Abkippen des linken Achters neben den Sechser und leichtes Abkippen des ballnahen Außenverteidigers das Angriffspressing zu überwinden. Die Rolle dieses linken Achters hatte zumeist Pedri inne. Er dient als zusätzliche Klatsch-Option im Zentrum mit dem Ziel, den freien Mann hinter dem Pressing zu finden und sich aus dem Druck zu lösen. Dadurch entsteht eine 2-gegen-1-Situation des empfangenden Innenverteidigers und des ballnahen Außenverteidigers.
Dennoch wird das gegnerische Angriffspressing nach vorausgehendem Locken des Pressings häufig auch sehr direkt mit gezielten langen Bällen in die letzte Linie überspielt. Durch einrückende Außenspieler und nachrückende Achter rund um den als Fixpunkt agierenden Lewandowski werden kurze Abstände zwischen den Spielern erzeugt, um nach Ballverlust direkt ins Gegenpressing zu kommen und durch hohe Ballgewinne möglichst viel Raum zu überbrücken und, wenn möglich, direkt mit Zug zum Tor umzuschalten.
fluides Angriffsspiel
Sobald Barcelona den eigenen Spielaufbau überbrückt hat und ins Angriffsspiel übergeht, legt Flick großen Wert auf Bewegungen und Positionsrotationen mit vielen Freiheiten für den Einzelnen im Gegensatz zum strikten Positionsspiel unter Ex-Trainer Xavi.
Häufig wird versucht, das Zentrum durch einrückende Außenspieler zusätzlich zu den sich im Zwischenlinienraum befindenden Achtern zu überladen. Die Außenverteidiger, speziell Balde auf der linken Seite, der immer wieder den Raum auf der Außenbahn aus der Tiefe beläuft und für gefährliche Hereingaben sorgen kann, agieren infolgedessen als Breitengeber in der letzten Linie. Die Rolle des Rechtsverteidigers, im Normalfall von Koundé bekleidet, wird etwas konservativer interpretiert. Ein Hauptgrund dafür ist, dass Yamal auf der rechten Seite nicht konstant im Halbraum agiert und auch häufiger die Breite hält, um seine Stärken im 1-gegen-1 auf dem Flügel auszuspielen und anschließend vom Flügel nach innen zu ziehen. Durch das Vorderlaufen des rechten Achters sowie von Koundé aus der tiefen rechten Halbspur und das Zusammenziehen des gegnerischen Blocks kann Yamal so immer wieder in 1-gegen-1-Situationen isoliert werden. Durch diese etwas konservativere Positionierung Koundés wird ein asymmetrischer 3+1-Aufbau mit sechs Spielern in der letzten Linie erzeugt, der für eine hohe Gegnerbindung sorgt. Koundé füllt in diesem Szenario auch gerne in der zweiten Linie auf, um das Zentrum weiter zu überladen.
Doch wie bespielt Barca dieses Cluster an Spielern im Zentrum? Die spielstarken Innenverteidiger suchen stets den Weg nach vorne und versuchen durch vertikale Laserpässe in den Zwischenraum, die erste Pressinglinie zu durchbrechen. Durch eine sehr hohe Fluidität in den Positionen und viele Gegenbewegungen, wie von Pedri, der gerne neben den Sechser als zusätzliche Anspielstation in der zweiten Linie, aber auch außerhalb des Blocks abkippt und so Räume für Mitspieler freizieht, werden Räume geöffnet. Eine weitere Schlüsselrolle kommt hier dem vom linken Flügel einrückenden Raphinha zu. Er taucht nahezu überall im Zentrum auf und agiert in einer Art Schattenstürmerrolle. Durch geschickte Gegenbewegungen des Duos Raphinha-Lewandowski kann der gegnerische Block vertikal auseinandergezogen und der Zwischenraum bespielt werden. Durch diese Tiefenläufe bietet sich für die Innenverteidiger auch immer wieder die Möglichkeit, einen Chipball über den gegnerischen Block zu spielen, um direkt vertikal in die Spitze zu spielen. Dieses Muster erkannte man bereits beim 7:0-Sieg gegen Real Valladolid bei den Toren zum 1:0 und 2:0.
Nachdem der Zwischenraum bespielt wurde, wird versucht, durch die kurzen Abstände zwischen den einzelnen Spielern in diesem Cluster mit schnellen Kombinationen die eigene technische Überlegenheit auszuspielen. Ein wichtiger Teil davon ist das Prinzip „toco y me voy“ aus dem Relationsspiel, auch bekannt als „Spiel und Geh“. Durch die ständigen neuen Positionierungen und das Ablagespiel abkippender Spieler kann dies in engen Räumen eine Waffe sein. Flick bedient sich hier im Zentrum mehrerer Elemente aus dem durch Fernando Diniz geprägten Relationsspiel, auch wenn nicht so stark ballseitig verschoben wird und die Überladungen hauptsächlich im Zentrum erfolgen. Gepaart werden diese Freiheiten im Angriffsspiel mit festen strukturgebenden Abläufen aus dem Positionsspiel.
In der nachfolgenden Szene aus dem Spiel gegen Valladolid kann sich Olmo durch einen linienbrechenden Pass der Innenverteidiger unter Druck aufdrehen. Durch das Nachrücken von Raphinha und Pedri sowie das Ablagespiel Lewandowskis werden enge Abstände hergestellt und das Kombinationsspiel auf engem Raum gefördert. Von dort aus wird sehr direkt Richtung Tor gespielt.
Flick-typisches Angriffspressing
Wie für Hansi Flick schon zu Bayern-Zeiten typisch, setzt er auch bei Barcelona auf ein enorm aggressives mannorientiertes Angriffspressing mit klaren Pressingfallen. Charakteristisch für Flicks Spiel gegen den Ball ist vor allem die hohe Intensität gegen den Ball und die Höhe des Pressings.
Trotz des mannorientierten Anlaufens liegt stets der Fokus auf einer +1-Überzahl in der letzten Linie. Folglich wird in einer -1-Unterzahl im Angriffsdrittel agiert. Nach gegnerischen Abstößen ist das Ziel Barcelonas, von außen nach innen zu pressen und so das Spiel in das durch Mannorientierungen im Mittelfeld und die enge Positionierung geschlossene Zentrum zu lenken oder lange Bälle in die eigene Überzahl in der letzten Linie zu erzwingen. Lewandowski agiert im Angriffspressing mannorientiert zum gegnerischen Sechser. Die beiden Achter agieren ebenfalls mannorientiert zu den anderen beiden Mittelfeldspielern des Gegners. Durch Lewandowskis zurückgezogene Rolle wird eine Überzahl im Zentrum hergestellt, und Barcelonas Sechser kann zwischen letzter Linie und Mittelfeld schwimmen und je nach Spielsituation im jeweiligen Mannschaftsteil für Überzahl sorgen, aber auch abkippende Angreifer zwischen den Linien aufnehmen.
In erster Linie wird vorerst nur mit den beiden Außenstürmern gepresst. Diese pressen vorerst im Raum zwischen den Innen- und Außenverteidigern, um das Spiel in die Breite zu unterbinden. Der Linksaußen agiert hierbei deutlich aggressiver als der Rechtsaußen Yamal, der nur in seltensten Fällen auf den Innenverteidiger springt. Der Linksaußen presst bei Ballbesitz des rechten Innenverteidigers aggressiv durch den Ballführenden und zwingt diesen zum Rückpass zum Torhüter. Von dort wird weiter durchgeschoben und Druck auf den Torhüter ausgeübt, was zu einem langen Ball in die Überzahl in der letzten Linie führt.
Durch dieses Druchschieben des Linksaußen entstehen große Räume für den Rechtsverteidiger des Gegners, welcher durch Chipbälle des Torhüters oder Seitenwechsel bespielt werden kann. Abgesichert wird dieses Anlaufen durch den linken Außenverteidiger, der erst auf Höhe der Mittelfeldlinie im Raum positioniert ist und bereit ist, auf den Außenverteidiger zu springen, sobald der Linksaußen auf den Torhüter durchschiebt oder durch einen gechippten Pass auf den Außenverteidiger ausgelöst wird. Der rechte Verteidiger hingegen ist in der letzten Linie zurückgezogen, um dort die +1-Überzahl herzustellen, und springt nur in den seltensten Fällen auf den gegnerischen Außenverteidiger. Der Rechtsaußen hat somit eine Doppelverantwortung und muss durch geschickte Positionierung den Außenverteidiger in den Deckungsschatten nehmen, darf aber gleichzeitig den Abstand zum Innenverteidiger nicht zu groß werden lassen, um ein Zuspiel auf diesen zu verhindern und so das Angriffspressing aufrechtzuerhalten und die Überzahl in der letzten Linie zu kompensieren.
Ein weiteres Schlüsselelement Flicks Ansatz gegen den Ball ist das Gegenpressing. Dieses wird durch die im Abschnitt „fluides Angriffsspiel“ bereits thematisierten engen Abstände im eigenen Ballbesitz gefördert. Nach Ballverlust wird sofort mit hoher Intensität defensiv umgeschalten und sowohl von den Offensivspielern rückwärts gepresst als auch von den Spielern hinter dem Ball aggressiv nach vorne verteidigt. Durch dieses intensive Gegenpressing ist es Barcelona möglich den Ball in den eigenen Reihen zu halten, sich in der gegnerischen Hälfte festzusetzen und nach hohem Ballgewinn sofort wieder in ihr Kombinationsspiel auf engem Raum zu kommen.
Potenzielle Probleme unter Flick
Doch Hansi Flicks Barcelona ist keinesfalls fehlerlos. Durch den starken Zentrumsfokus im Pressing besteht, gerade durch das zögerliche Rausschiebeverhalten des Rechtsverteidigers, die Möglichkeit, dass Gegner das Pressing provozieren, den Rechtsaußen locken und durch gezielte Chipbälle hinter den Rechtsaußen den offenen Raum mit dem eigenen Linksverteidiger bespielen. Durch das Überladen dieser Seite können Anspielstationen geschaffen werden, und es ist möglich, sich aus dem katalanischen Angriffspressing zu lösen.
Eine weitere Möglichkeit wäre, beide Außenverteidiger hochzuschieben, um so den Flügel doppelt zu besetzen und eine 2-gegen-1-Situation auf der Außenbahn zu erzeugen. Durch den anderen Außenverteidiger kann ballfern für Gegnerbindung gesorgt und eine Überzahl Barcelonas in der letzten Linie vermieden werden. Ziel ist es dann, diese Überzahl auf dem Flügel durch lange Bälle auf die Außenbahn auszunutzen, um Kontrolle über das Spiel zu erlangen oder über zweite Bälle direkt vertikal in die Spitze zu spielen.
Auch die zu Bayern-Zeiten Dauerthema gewesene riskante Restverteidigung Flicks könnte im Laufe der Saison wieder zum Thema werden. Im Gegensatz zu vielen Teams, die heutzutage aufgrund der hohen Kompaktheit nach Ballverlust das Spiel mit fünf Spielern aus einem 3-2- oder 2-3-Aufbau eröffnen, baut Barcelona aufgrund der bereits erklärten zentralen Überladungen nur mit vier Spielern auf. Hinzu kommt das Vorderlaufen des Rechtsverteidigers aus der Tiefe, was für noch weniger Absicherung sorgt.Durch die hohe Positionsfluidität kann es außerdem passieren, dass zu viele Rotationen ohne das richtige Timing gleichzeitig stattfinden und dadurch gefährlich große Lücken nach Ballverlust entstehen.
Fazit
Mit der Verpflichtung von Hansi Flick scheint es, als hätte der FC Barcelona den richtigen Trainer zur richtigen Zeit gefunden. Flick zeigt bereits in den ersten Spielen große Veränderungen im Vergleich zu seinem Vorgänger Xavi, gerade die hohe Fluidität und die vielen Rotationen mit dem Ball unterscheiden sich deutlich von Xavis striktem Positionsspiel. Auch gegen den Ball sind Veränderungen in der Art des Pressings, aber auch in der Intensität bemerkbar.
Neben seinem hochintensiven Pressingfußball bringt Hansi Flick bei seiner neuen Station auch einige hochspannende neue Elemente aus dem Relationsspiel mit ein und kombiniert diese Ideen im Angriffsspiel mit klassischen Breitengebern und festen Abläufen aus dem Positionsspiel.
Dennoch läuft, auch wenn es im Moment so scheint, noch nicht alles fehlerfrei, speziell im Pressing und in der Restverteidigung.Es bleibt abzuwarten, wie schnell die Konkurrenz in Spanien diese Schwächen auszunutzen weiß und wie darauf reagiert wird.Hansi Flick beim FC Barcelona ist nichtsdestotrotz ein hochspannendes Projekt im europäischen Fußball, das man definitiv im Auge behalten sollte.
Autor: FN beschäftigt sich mit intensiv mit Taktiktheorie als auch Analysen zu aktuellen Spielen und Entwicklungen im Fußball. Auf Twitter ist er als @felixnb aktiv.
18 Kommentare Alle anzeigen
Koom 14. Oktober 2024 um 10:13
> Mit der Verpflichtung von Hansi Flick scheint es, als hätte der FC Barcelona den richtigen Trainer zur richtigen Zeit gefunden
Ja, aber nicht uneingeschränkt. Ich denke, dass Flick kombiniert mit der zugrundeliegenden Tiki-Taka-DNA erst mal spannende Ergebnisse bringt. Absicherung, Positionspiel, Technik sind durch Barcelonas übliche Spielwese auf einem guten bis sehr guten Niveau. Dort jetzt Impulse wie Flicks „alles druff nach vorne“ einzubringen, bringt naheliegenderweise Erfolg.
Die Probleme kommen dann, wenn aus dem Kader das Tiki-Taka (ich nenne es mal so) herauswächst, was zwangsläufig passiert, wenn man es nicht regelmässig trainiert und einimpft. Das wird dann mittelfristig ähnlich wie bei den Bayern und der Nationalelf werden: Man wird massiv anfällig in der Defensive, und bekommt da auch nicht mehr den Deckel drauf.
Die Bayern laborieren da heute noch dran rum, die Nationalelf musste auch eine Frischzellenkur machen und der deutsche Fußball im ganzen erholt sich so grade erst von der Flickschen Antipathie gegen Defensive Mittelfeldspieler.
Ein Zuschauer 14. Oktober 2024 um 10:25
Hm. Also dass der deutsche Fußball sich da von Flicks Antipathie erholen müsste sehe ich nicht. Welcher 6er wäre denn jetzt auf einem höheren Niveau wenn Guardiola oder Alonso oder Tuchel damals Nationaltrainer gewesen wäre? Ich behaupte keiner, da hat der Nationaltrainer doch keinen Einfluss.
Sonst stimme ich dir aber tendenziell zu, wobei ich noch nicht ganz sicher bin wie das bei Barcelona enden wird. Die 6er-Antipathie hat er ja abgelegt. Aber ich frage mich auch, ob das ein bisschen der André-Schubert-Effekt ist.
Koom 14. Oktober 2024 um 11:09
Wie es halt so ist, hat der Klassenbeste Nachahmer. Weil die Bayern ewig unter Flick und Nagelsmann auf einen 6er verzichteten, machten das auch andere so, bzw. behandelten die Position nachrangig. Da positionierte man dann bestenfalls verkappte Spielmacher.
In der Bundesliga hatten wir jetzt lange nur wenig „richtige“ DMs, die die Position tatsächlich bespielen konnten. Wir hatten da „Ich bin eigentlich ein 10er“ Joshua Kimmich, „ich bin überall auf dem Platz, aber nicht im 6er Raum“ Emre Can… und danach ganz lange nichts. Tuchel brachte notgedrungen Pavlovic hervor, Groß wurde zwangsrekrutiert, um die Vakanz zumindest einen Hauch zu bekämpfen (ist aber auch kein 6er) usw. Andrich ist quasi so der einzige „runde“, erfahrene Sechser – passenderweise vom Deutschen Meister.
Mittlerweile zeigen vermehrt wieder Bundesligisten, dass so ein guter Sechser doch ne feine Sache ist, wenn man ein Spiel in allen Phasen kontrollieren will.
tobit 14. Oktober 2024 um 13:13
Naja, das ist aber auch eine verkürzte Ansicht. Schlager, Kampl, Weigl, Khedira, Grillitsch hat es die letzten Jahre alle gegeben und hatten alle gute bis sehr gute Phasen. Was fehlt, ist der Weltklassespieler, der den Nationaltrainer durch pure Klasse zwingt, auf ihn zu setzen. Den haben aber die meisten anderen Nationen auch nicht – eigentlich nur Spanien (von Busquets quasi nahtlos zu Rodri zu übergeben ist schon Luxus) und die Türkei (Calhanoglu, wobei der ja nebenbei auch noch ein verkappter Spielmacher ist) plus vor ein paar Jahren ganz kurz mal Brasilien und Italien (Casemiro bzw Jorginho). Deutschland, Frankreich und Belgien könnte vllt in den nächsten Jahren die nächsten mit diesem Glück sein (Pavlovic / Tchouameni / Lavia).
Taktik-Ignorant 14. Oktober 2024 um 15:16
Tchouameni und Camavinga können beide die 6er-Position sehr gut ausfüllen, da herrscht bei Frankreich ein nahtloser Übergang von Kanté zur nächsten Generation; Camavinga ist vielseitig und spielt bei Real oft auch andere Positionen, was aber daran liegt, dass beide (Tchouameni und Camavinga) gleichzeitig auf der 6 ein wenig Overkill wären, zumal auch noch Valverde in der Gegend herumturnt. Aber die richtig guten 6er haben sich in der Bundesliga zuletzt eher rar gemacht, gerade auch solche mit deutschem Pass. Ein etwaiger Verzicht auf diese Position hat daher wohl eher mit Angebotsmangel zu tun als mit taktischen Präferenzen.
tobit 14. Oktober 2024 um 16:02
Kanté und Camavinga sind ehrlich gesagt keine Sechser im Sinne von Koom und mir. Sie sind defensive Mittelfeldspieler, aber positionell brauchen sie einen Sechser neben (bzw meist hinter) sich.
Sechser sind positionstreue Spieler im tiefen Mittelfeld. Defensive Mittelfeldspieler können überall im mittelfeld beheimatet sein, sie zeichnen sich halt durch besonders starkes Spiel gegen den Ball aus. Kroos war zuletzt z.B. ein Sechser aber natürlich kein defensiver Mittelfeldspieler. Busquets war immer beides und Modric keins von beidem. Thiago war als Zehner unter Ancelotti z.B. ein defensiver Mittelfeldspieler, unter Guardiola auf der Sechs aber nicht.
Tchouameni plus Camavinga wäre eigentlich super für Real und Frankreich. Das spielmacherische Genie, das Kroos und Pogba da in der Vergangenheit mitbrachten, darf halt nicht der Maßstab sein, weil sie in der Disziplin bis heute ihresgleichen suchen. Bei Real ist das auch glaube ich der Plan, der wird halt nur ständig von verletzten Verteidigern durchkreuzt, so dass Tchouameni ständig nach hinten muss. Da sieht man dann finde ich auch sehr klar, dass Camavinga eben kein Sechser ist, weil er und Valverde (als Zehner oder RA ist er ein defensiver Mittelfeldspieler, auf der Doppelsechs nicht) ständig Raum vor der Abwehr aufgehen lassen, den natürlich von den Stürmern keiner stopft.
Koom 14. Oktober 2024 um 17:13
Da muss ich einschränken: Kante sehe ich durchaus als Sechser, Camavinga habe ich zu wenig gesehen um ihn zu beurteilen.
Ich erwarte auf der Sechserpositionen keinen gottgleichen Allrounder, der defensiver Prellbock, Pressingresistenzmonster und cooler Passgeber in einem sein Muss, dazu sich noch gezielt offensiv einschaltet, um dort torgefährlich zu sein.
Nein, in der Grundform ist ein Sechser für mich, der diesen Raum „Defensives Mittelfeld“ besetzt, auch wenn es keinen Spaß macht. Und der dort löscht und im Aufbauspiel zumindest keine Gefahr für das eigene Team darstellt. Der kann und darf einfach nur pressingresistent sein und einen unspektulären Paß nach hinten, Seite oder zum 8er-Nebenmann spielen. Aber er muss dort anspielbar sein und sich entsprechend bewegen und im Defensivspiel dort den Raum besetzen und mindestens für so viel Störung sorgen, dass die IV nicht den vollen Angriff abkriegt.
Insofern ist Kante für mich schon sehr gut. Auch Casemiro, obwohl „nur“ Abräumer, hat das bei Madrid gut gemacht und war ein wichtiger Baustein für Modric und Kroos. Javi Martinez fand ich auch toll, obwohl er kein Laserpaßspieler war. Oder eben Prime-Weigl bei Tuchel, der dort auch kein Laserpaßler war und körperlich nicht der Grätscher, aber er war immer präsent und hilfreich.
Ich bin im Herzen Mainzer, das ist das Niveau an Fußball. Ich glaube nicht daran, dass man für alles Weltklasse braucht und kriegt, sondern dass man manchmal einfach nur das richtige Zahnrad im richtigen Getriebe sein muss.
Taktik-Ignorant 14. Oktober 2024 um 17:25
Es ist das natürliche Verhaltensmuster einer „Doppel-6“, dass nicht beide gleichzeitig die defensive Position halten, sondern mindestens einer bei Ballbesitz weiter nach vorne rückt. Für mich ist ein 6er ein zentraler Mittelfeldspieler, dessen Haupt-, aber nicht einzige Aufgabe es ist, die Abwehrkette abzusichern bzw. Löcher vor (oder in) derselben zu stopfen. Besondere Qualität ist dabei antizipatives Stellungsspiel (Abfangen gegnerischer Pässe, Sichern „zweiter“ Bälle etc.) und eine hohe Qualität im Defensivzweikampf. Manche bringen dazu eine hervorragende Qualität im Aufbauspiel mit (Paradebeispiel Schweinsteiger, aber auch Torsten Frings), andere Box-to-Box-Qualitäten, weshalb sie öfter aussehen wie ein 8er. Positionstreue ist im modernen Fußball mit vielen Rochaden eher eine relative Größe.
Und ja, bei Real scheint mir gerade im Fall von Camavinga bei seinem Einsatzauftrag viel davon abzuhängen, wer gerade verletzt ist.
tobit 14. Oktober 2024 um 18:30
@koom: Ich finde du misrepräsentierst hier Kanté und Weigl ziemlich.
Kanté hält ja grundsätzlich nicht den Raum, sondern ist permanent auf der Suche nach Zugriff in höheren Spielebenen. Gegen den Ball jagt er nach vorne um das Pressing zu unterstützen und mit dem Ball ist er einer der genialsten Raumschaffer und auch immer mal technisch für eine Überraschung gut (ein bisschen wie Müller in der Hinsicht). Camavinga ist etwas weniger weiträumig und noch nicht ganz so überragend im Antizipieren von Zugriffschancen wie prime-Kanté. Dafür ist er ein verdammt starker 1vs1 Spieler, noch explosiver und hat eine bessere Passtechnik in engen Räumen.
Weigl war beim BVB der schmutzigste Spieler nach Sokratis, und insbesondere seine Grätschen sind sehr gut. Nur weil er keine Schrankwand wie Süle ist, ist er ja kein körperloser Spieler. Er setzt ja auch in Ballbesitz seinen Körper durchaus viel ein um am Gegner vorbeizukommen (anders als ein Kroos oder Busquets das taten).
Und es war von meiner Seite auch kein „Diss“ gegen Kanté, der war für eine kurze Zeit der beste Achter und vllt sogar Mittelfeldspieler allgemein auf dem Planeten. Wenn er fit geblieben wäre, würde man über ihn auch nochmal mit einer ganz anderen Reverenz sprechen, als man das jetzt schon tut.
@Taktik-Ignorant: Eine „Doppelsechs“ wird halt aus genau dem Grund quasi nie mit zwei Sechsern besetzt (außer man hat auch noch einen Achter a la Gündogan auf der Zehn), sondern praktisch immer mit einem Sechser und einem Achter. Box-to-Box-Spieler sind für mich grundsätzlich keine Sechser, bzw scheitern als Sechser früher oder später (siehe Kimmich unter Flick und Nagelsmann). Diese Spieler sehen in einer Doppelsechs (oder allgemein) nicht zufällig aus wie Achter, sondern weil sie es sind.
Und ein Sechser braucht für mich z.B. keinerlei Zweikampffähigkeiten (Kroos, Calhanoglu) um gut auf die Position zu passen. Genauso muss er auch nicht pressingresistent sein (Casemiro), es geht für mich rein um das Positionsspiel bei der Bezeichnung.
Rodri verlässt z.B. für mich aktuell immer mehr die Klassifizierung als Sechser, weil er den Raum so oft verlässt. Man könnte ihn als falsche Sechs analog zu Messis falscher Neun sehen, da er in seinem Verlassen der Position oft so aufmerksam und kompetent ist, dass der verwaiste Sechserraum nicht zum Problem für seine Mannschaft wird.
Koom 15. Oktober 2024 um 09:59
Der „Sechser“ ist halt keine singuläre Interpretation, sondern ein Aufgabengebiet. Weigl und Kante haben dabei sehr unterschiedliche Aspekte und Interpretationen aufgezeigt, aber gleich war bei beiden, das diese Zone vor der Kette ihr Verantwortungsbereich war. Wo Weigl da als effektiver Störer und Anspielstation agierte, griff Kante an den Rändern des Bereichs effektiv an. Die Idee und der Effekt bei beiden war, das in diesem „Sechserbereich“ wenig Chancen des Gegners entstehen und durchkommen.
Ob man das nun eher als „Holding Six“ macht, oder als Grätscher, Kombinationsspieler, Störer, Whatever, ist dabei wurscht. Das ist dann Geschmackssache. Sechser ist – für mich – erstmal die Grundaufgabe, die Lösungswege sind unterschiedlich.
Koom 14. Oktober 2024 um 15:26
> Was fehlt, ist der Weltklassespieler, der den Nationaltrainer durch pure Klasse zwingt, auf ihn zu setzen.
Oder schlichtweg das Verständnis, dass diese Position auch einfach von einem erfüllt werden MUSS, der das sorgfältig und diszipliniert macht. Weltklasse braucht es da nicht, auch wenn es wünschenswert ist. Auch die Mittelstürmerposition ist eine, die besetzt werden muss von jemanden, der dort präsent ist. Ansonsten funktioniert das Zirkuszelt einer Spielweise nicht, weil bestimmte Teile einfach keine Säule haben und das Ding zusammenbricht.
In vielen Vereinen hat man diese Position einfach verwaisen lassen und sich dann gewundert, warum die tolle Offensivmaschine mit den Supernnenverteidigern sich dann Kasper-Tore einfängt. Immer und immer wieder.
Nagelsmann bei der N11 musste sich auch erstmal ne flotte blutige Nase abholen, bis er dann akzeptierte, dass er nicht sein Bayern-Ding (das auch brüchig war) durchbuttern kann, sondern was drastisches ändern musste. Insert Rückholaktion Kroos (der Ballsicherheit und Pressingresistenz auf der Position wieder brachte), Andrich (ruhiger, defensiver Arbeiter), Groß (disziplinierter Arbeiter). Und seitdem ist die N11 tatsächlich wieder gefährlich. Es ist ein Prozess, er ist nicht am Ende, aber der Unterschied ist gigantisch zum Geflicke zuvor.
tobit 14. Oktober 2024 um 15:46
Ich sehe halt einfach nicht, dass die Bayern- und BVB-Sechser-Problematik ein ligaweites Phänomen gewesen wäre. Es gibt und gab haufenweise gute Sechser in der Liga, darunter auch deutsche. Meist haben die Teams ja eben gar nichts mehr für die Offensive gemacht, geschweige denn riskiert, in den letzten Jahren.
Dass die letzten drei Bundestrainer alle keine Fans von Sechsern mit weniger als 14 Buchstaben waren, sehe ich aber genauso. Darauf bezog sich meine Aussage bzgl der Weltklasse-Sechser, die ihre Trainer unabhängig von der Spielidee (erfolgversprechende Ideen brauchen alle einen Sechser, aber das ist ein anderes Thema) dazu zwingen, sie aufzustellen.
Koom 14. Oktober 2024 um 17:16
Naja, es war Bayern-, BVB- und Nationalelf-Problem. Das ist schon recht prägend, wir reden da über die langjährigen Branchenführer der Marke Bundesliga. Das woanders auch mal ein Sechser unterwegs war, ist durchaus richtig, aber so richtig Entscheidendes kam da nicht. Zudem hat der tumbe Fußballjournalismus das Problem da nie benannt – Kunststück, die meisten Sportjournalisten sind fachlich sowohl in Sachen Sport wie Journalismus mehr als fragwürdig und eher schlecht.
Taktik-Ignorant 14. Oktober 2024 um 17:45
Jeder Verein spielt mit dem Kader, den sein Budget zulässt, und viele Vereine haben ordentliche, bundesligataugliche deutsche oder nichtdeutsche 6er oder Außenverteidiger oder Mittelstürmer etc., aber eben nicht auf einem Niveau, das international beeindrucken oder Aufsehen erregen würde. Und dann gibt es Vereine (bzw. Trainer), die besonders gute Spieler auf einer bestimmten Position einsetzen, obwohl die Spieler für diese Position eigentlich nicht gemacht sind (mal ein jüngeres Beispiel außerhalb der 6er-Position: Havertz in der NM als Linksverteidiger). Es kommt letzten Endes wirklich darauf an (und damit schlage ich den Bogen zu Flick), ob die Gesamtstatik funktioniert (siehe die ganze Diskussion um echte oder falsche 9er: solange eine Mannschaft genug Tore schießt, ist es eigentlich egal, von wem und welcher Position aus die Tore erzielt werden).
Flicks Spielidee bei Bayern (und scheinbar auch bei Barcelona) scheint die zu sein, durch extremes Gegenpressing so schnell den Ball zurückzugewinnen, dass der 6er nicht mehr gebraucht wird, weil die Leute vor ihm die Arbeit schon erledigt haben. Dann, so könnte man meinen, entfällt die Rolle des 6ers als Abfangjäger. Diese These ist natürlich schräg, denn die Rollen der Spieler ändern sich ja nicht, bloß weil das ganze Gefüge höher steht. Der Abfangjäger steht dann eben nicht hinter, sondern (manchmal ziemlich weit) vor dem Mittelkreis. Es kommt eben auf die von mir oben genannten Qualitäten an, und ob die ein Spieler mitbringt (Antizipieren, Positionsspiel, Zweikampfstärke). Ich bin mir ziemlich sicher, dass Flick das auch weiß.
Koom 15. Oktober 2024 um 10:04
Flick ist ein Stück weit ein Idiot. Der hat Guardiola gesehen und Klopp gesehen und gemeint, dass er es verstanden hätte. Guardiola schasste Martinez und platzierte Alonso auf die Sechs, der vordergründig nur als „alternder Libero vor der Abwehr mit tollen Aufbaupässen“ auffiel. Aber wer genau hinschaute, der sah auch, dass er im Grunde im Sechserraum immer da war und wenn ein Angriff dort bedrohlich wurde, war er präsent. Meistens clever-linkisch mit einem taktischen Foul, aber er entlastete dort die (damals massiv gute) Abwehrkette extrem.
Kimmich hat das damals gesehen und gedacht, das er das auch kann. Lange Pässe und so. Aber der beschützt den Sechserraum entweder gar nicht, lässt sich auch nicht anspielen in diesem Raum (verschwindet ja sogar freiwillig in Deckungsschatten) und wenn er doch mal dort tätig ist, ist das defensiv nicht gut.
Aber er peitschte die eigene Mannschaft mit – zugegeben – guten langen Pässen nach vorne und zwang das eigene Team in ein waghalsiges Gegenpressing. Und mehr und mehr konnte das Team das nicht leisten.
AG 24. Oktober 2024 um 09:52
LOL
Koom 24. Oktober 2024 um 11:23
Beziehe ich auf meinen Kommentar, bleibe auch dabei. Flick im ersten Jahr ist fein. Danach wirds auseinanderfallen, wenn ihn niemand zwingt, defensive Absicherungen mit reinzubringen.
AG 7. November 2024 um 11:46
Flick lässt einen extrem aggressiven und intensiven Stil spielen, und das führt praktisch immer dazu, dass die Spieler nach 2-3 Saisons einfach nicht mehr können (oder wollen). Selbst ganz große Trainer wie Conte oder der junge Mourinho „funktionieren“ oft nicht länger. Dazu setzt Flick stark auf junge Spieler in Barcelona und einen attraktiven Spielstil: viel mehr kann man von keinem Trainer verlangen. Ich bin selbst gespannt, wie gut er die Belastung über die Saison steuern kann und wie es nächstes Jahr aussieht. Trotzdem ist Barcelona offensichtlich einer der Favoriten auf den CL-Titel dieses Jahr.