VfB Stuttgart – Hannover 96 2:4

Slomkas Systemwechsel dreht ein einseitiges Spiel auf spektakuläre Weise.

Hannover 96 zementierte beim Gastspiel in Stuttgart sein Image der Comeback-Mannschaft. Dabei dominierte Stuttgart die erste Halbzeit über ihre Überzahl im Zentrum komplett. Mirko Slomka erkannte den Fehler in seiner 4-4-2-Startaufstellung und korrigierte risikoreich auf ein aggressives 4-1-3-2-System, was Hannover ins Oberwasser brachte und den 2:0-Rückstand mit vier Toren in 15 Minuten drehte.

Der Bonus-Kuzmanovic

Die erste Halbzeit war eine eindeutige Angelegenheit zu Gunsten des Stuttgarter 4-3-3-Systems. Kuzmanovic übernahm Kvists Rolle als Sechser zwischen den Viererketten und avancierte direkt zum Schlüsselspieler gegen Hannovers dreireihiges 4-4-2-System. Er war der Überzahlspieler zwischen den klar zugeordneten Innenverteidigern und Achtern, der sicherers Aufbauspiel hinten und Bewegungsfreiheiten im Mittelfeld schuf.

Dabei gelang es Stuttgart sehr gut, ihre Überzahl auch auszuspielen. Die beiden Innenverteidiger und drei zentralen Mittelfeldspieler standen zu fünft gegen Hannovers zwei Stürmer und Sechser, die ihrerseits zu viert versuchten durch Deckungsschatten die Unterzahl zu kompensieren. Artur Sobiech orientierte sich nach hinten an Kuzmanovic, um ihn zu sperren und dann situativ Druck machen zu können.

Hannover arbeitete jedoch zu eindimensional mit den Passwegen von Stuttgarts Aufbauspiel. So klebte Sobiech zu nah an Kuzmanovic und ließ sich von ihm herumzerren, anstatt ihn situativ an die Sechser oder in Dioufs Deckungsschatten zu übergeben. Der Pole war daher meist sehr klar zugeordnet und konnte nur auf Kuzmanovic oder Niedermeier Druck entwickeln, nicht auf beide gleichzeitig. So lief auch Diouf selten Niedermeier seitlich an, sondern war vorhersehbar vor Tasci geparkt.

Hannover schaffte es daher nie aktiv Zugriff zu entwickeln, sondern wartete passiv auf taktische Fehler, welche die Stuttgarter aber kaum machten. Niedermeier wich situativ nach außen, Kuzmanovic wechselte geschickt zwischen wegziehendem und ballforderndem Freilaufverhalten und Tasci versuchte ebenso wie die Achter, die Verbindungswege offen zu halten. So hatte der VfB meist einen ganz klaren freien Spieler und konnte sich in Ruhe stressfreie Wege ins Mittelfeld aufschieben, was hauptsächlich über die linke Seite sehr geschickt durchgezogen wurde.

Stuttgarts asymmetrisches Überladungsspiel auf links

Dabei rückte Traore recht oft von links in den Achterraum ein und störte dort die Zuordnung von Hannovers Sechsern, während Boka in hoher Grundposition hinter ihm für Breite sorgte. Als Reaktion bewegte sich vor allem Stuttgarts linker Achter (meist Gentner, aber oft Tausch mit Holzhauser) dann flexibel in die Offensivräume.

So konnte Stuttgart aus dem Zentrum heraus kontrolliert in die linken Räume des Mittelfelds stoßen und zwang Hannover zum späten Verschieben. Da Slomkas Elf keinen frühen Zugriff bekam, konnten sie Stuttgart nicht nach außen leiten, um dann frühzeitig in eine Überzahlsituation zu verschieben, sondern mussten „hinterherrennen“. Dann konnte Stuttgart auf den nachrückenden Sakai verlagern oder den rechten Achter bedienen, der sich zumeist vorerst abwartetend positionierte und erst später in freiwerdende Räume starte.

In der Summe konnte Stuttgart oft Kontrolle zwischen den Linien und in den Halbräumen auf beiden Seiten entwickeln. Schmiedebach und Schulz bekamen zu selten Zugriff und die Viererkette in der Abwehr musste vieles reparieren, wobei sie es wie üblich auch noch mit dem beweglich durchstoßenden Harnik zu tun hatten.

So entstand dann auch der Führungstreffer über die rechte Seite, über die der VfB auf Umwegen zu Holzhauser rechts außen verlagerte, der ungestört die Hereingabe spielen konnte, welche der im Rücken von Hannovers Rückschiebebewegung freigewordene Gentner verwerten konnte.

Hannovers Ungefährlichkeit in Aufbau und Konter

Auch defensiv funktionierte die Stuttgarter Überzahl im Zentrum hervorragend. Zum einen wirkte sie sich direkt bei langen Bällen auf die Stürmer aus. Kuzmanovic konnte die Innenverteidiger unterstützen und trotz der teilweise eingerückten Stellung der Hannoveraner Flügelspieler konnten die Stuttgarter die zweiten Bälle zum Großteil sichern oder im Nachsetzen verteidigen.

Zum anderen zwang sie Hannover auch leicht zu solchen langen Bällen, da die Achter und Flügelspieler in ihrer erhöhten Stellung klare Zuordnungen hatten und leicht Zugriff bekommen konnten. Die limitierten Hannoveraner Innenverteidiger spielten den Raum, den sie gegen Ibisevic hatten nicht so gut aus wie ihre spielstärkeren Pendants auf anderer Seite und wurden vom Stuttgarter Torjäger auch früh seitlich angelaufen. So vermied Hannover den Spielaufbau über diese beiden, nutzte daher die eigene Überzahl nicht und hatte kaum Zeit am Ball, um die Zuordnungen im Mittelfeld mit klugen Läufen auflösen zu können, was ohnehin keine bevorzugte Strategie von Slomkas Elf ist. In Hälfte eins spielten die Gäste daher nur etwa halb so viele Pässe wie der VfB.

Zudem kam Hannover auch zu fast keinen Konterangriffen, was auf dem Papier der größte Vorteil der Gleichzahl im Sturm gewesen wäre. Dadurch, dass Kuzmanovic und der rechte Achter senkrecht zu den linken Mittelfeldräumen standen und Sakai eine absichernde Grundposition hatte, war Stuttgarts Spielaufbau über links gut geschützt und Hannover konnte aus den ohnehin meist minderwertigen Ballgewinnen fast nie kontrolliert vorwärts spielen. Bei langen Bällen nutzte die Gleichzahl der Stürmer auch nichts, da Niedermeier und Tasci dann gut verzögerten, sodass Kuzmanovic schnell helfend nachrücken konnte.

Slomkas gekipptes 4-1-3-2

Da bei Hannover fast nichts funktionierte, musste Mirko Slomka etwas ändern und fand eine hevorragende Maßnahme. Er stellte auf eine Mischung aus Raute und sehr offensivem 4-1-3-2 um, indem er Schlaudraff für Huszti als Zehner brachte. Stindl spielte rechts weiterhin als Flügelspieler, während Schmiedebach nach links in eine Halbposition rückte. Aus dieser konnte er nach außen schieben, absichernd stehen oder in den linken Halbraum nachrücken und oft rückte er sogar unterstützend auf die überladene rechte Seite, auf die sich auch Schlaudraff vornehmlich orientierte.

Mit Schlaudraff, der um Kuzmanovic kreiste, wurde nun Stuttgarts Überzahl in diesem wichtigen Bereich kompensiert und Stuttgart wurde die Ruhe im Spielaufbau genommen. So spielten Tasci und Niedermeier in der zweiten Hälfte nur noch 29 Pässe, vor der Pause waren es über 70 gewesen. Kuzmanovic spielte fünf seiner sechs Fehlpässe nach dem Wechsel.

Kompensation der Leerstellen und Stuttgarts Defizite

Der VfB wurde nun also früher auf die Flügel gedrückt und kam zu selten von dort weg. Besonders effektiv wurde Hannover dann, wenn sie es schafften, die Hausherren auf deren linke Seite zu leiten, da sie in der Grundstellung (Stindl hoch, Schmiedebach eingerückt) auf diese Seite verschoben standen und dann sehr leicht Druck machen konnten. Diese Richtung versuchten sie auch zu fokussieren, indem die Stürmer öfters etwas nach links versetzt positioniert waren und daher in der vordersten Linie die rechte Seite etwas geöffneter ließen. Diese Idee funktionierte nicht durchgängig, aber Stuttgart spielte doch immerhin fast so oft über links wie über die Seite von Sakai und zudem konnte Sobiech in seiner leicht linksseitigen Position den Druck auf diese Seite dann auch ein wenig erhöhen.

Hauptsächlich wurden die kritischen Angriffe über die relativ verwaiste rechte Seite aber durch ein massives Verschieben von Schulz und Schmiedebach kompensiert. Schulz war ohnehin der wichtigste Spieler der Hannoveraner Defensive und musste sehr viel Raum abdecken, was er leidenschaftlich erledigte. Dadurch ging dann jedoch das Zentrum bzw. der ballferne Halbraum oft extrem auf, was Stuttgart nicht gut nutzte. Traores Flügelfokus im Angriffsdrittel und das Fehlen eines Zehners machten sich hier schmerzhaft bemerkbar.

Neben diesen beiden Faktoren nutzte Slomka mit der nach rechts geschobenen Grundstellung auch Harniks Spielweise für sich aus. In seiner oft eingerückten Position wurde er teilweise von Schmiedebachs Schatten verschluckt, was auch verhinderte dass Stuttgart schnell über ihn kontern konnte. Zudem fehlte dem VfB dadurch etwas die Konsequenz den rechten Flügel entlang, wo sie Hannovers System hätten aufreißen müssen.

Stindl und Schlaudraff bringen die Unwucht nach rechts

Offensiv funktionierte der Hannoveraner Plan B auf simple Weise über die pure numerische Präsenz in den hohen Zonen und den Vorteil der nach rechts geschobenen Grundstellung. So orientierte sich Schlaudraff auf Stindls Flügel und Hannover erzeugte ständig Gleich- oder Überzahlsituationen auf der rechten Seite. So konnten sie immer wieder Momentum aufbauen und brachten Stuttgarts Defensive zum Reagieren.

Über Pässe in die Gleichzahlsituationen der Mittelstürmer und Verlagerungen auf Schmiedebach, der in den offenen linken Halbraum nachstieß, oder Rausch, der Harniks eingerückte Position ausnutzen konnte, konnten sie dann Durchschlagskraft aufbauen. Im Laufe der ersten Viertelstunde fanden sie dabei immer mehr ihren Rhythmus, was anschließend mit etwas Glück in gleich vier Toren resultierte, die zwischen der 57. und 73. Minute das Spiel drehten und entschieden.

Auch der verbesserte Zugriff in der Defensive wirkte sich dabei sehr konstruktiv aus. Da es nun mehr Ballgewinne im Zentrum gab und Schlaudraff zudem die offensive Präsenz im Umschaltmoment erhöhte, kam Hannover nun auch vereinzelt zu ihren Kontersituationen, was einen guten Teil der erhöhten Offensivgefahr ausmachte.

Die Psychologie der dominanten Führung

Dabei muss man sagen, dass diese erhöhte Angriffskraft natürlich stark zulasten der Absicherung ging, auch wenn Hannover doch immer noch eine ordentliche Grundstabilität hatte, weil Cherundulo sich nicht großartig einschalten musste, Schmiedebach meist nur nachrückte und die Enge auf dem rechten Flügel einige Male verhinderte, dass Stuttgart konstruktiv umschalten konnte. Dennoch gab es zahlreiche Situationen, in denen Schulz das Zentrum nicht alleine sichern konnte und der VfB große Räume für schnelle Konter fand.

In diesen Szenen fehlte es den Stuttgartern jedoch an der richtigen Konsequenz, sie rückten zu behäbig nach und spielten zu drucklos nach vorne durch. Auch nach Ballverlusten schalteten sie sehr inkonsequent auf Gegenpressing um, was gegen den numerisch schwachen Abwehrverbund sonst viel Druck hätte erzeugen können. Man merkte Stuttgart also an, dass sie aus einer völlig kontrolliert geführten Halbzeit kamen und gedanklich eher auf die Verwaltung einer Führung eingestellt waren. Dass dadurch die Leidenschaft und Griffigkeit in den Umschaltmomenten verloren ging, erlaubte Hannover erst ihre riskante Strategie.

Auch nach den schnell aufeinanderfolgenden Hannoveraner Treffern konnten sie sich nicht auf die veränderte Situation einstellen. Letztendlich war der VfB in der zweiten Halbzeit trotz des offeneren Gegners wesentlich ungefährlicher, brachte nur drei Schussversuche zustande. Labbadias offensive Anpassungen nach dem 2:4 verpufften und Hannover spielte den Vorsprung gegen die nun zerfahren und improvisiert wirkenden Stuttgarter herunter.

Fazit

Slomka lief mit seinem 4-4-2-System im ersten Durchgang gegen eine durchaus vorhersehbare Wand und kassierte einen verdienten Rückstand. Stuttgart zeigte in dieser Phase wohl eine der besten Saisonleistungen und erweiterte sein System mit einer geschickten Asymmetrie auf links, die sehr gut auf Hannovers Defensivansatz passte.

Nach der Pause reagierte Hannovers Trainer aber perfekt. Das Maß an Risiko, welches er wählte, war exakt die richtige Mischung für die Situation und verschuf seiner Mannschaft die ersehnte Offensivpräsenz, ohne defensiv ernsthafte Probleme zu verursachen. Wie durchschlagskräftig sich der Wechsel letztendlich auswirkte, war auch etwas glücklich, da die schnell aufeinanderfolgenden Tore und die beiden Elfmeter nicht zwingend die Kräfteverhältnisse darstellen, aber Slomka legte erst den Grundstein dieser massiven Auswirkung und brachte seine Mannschaft mit der Änderung enorm viel besser in die Partie als sie es vorher gewesen war.

DLPilger 14. November 2012 um 12:53

„Man merkte Stuttgart also an, dass sie aus einer völlig kontrolliert geführten Halbzeit kamen und gedanklich eher auf die Verwaltung einer Führung eingestellt waren. Dass dadurch die Leidenschaft und Griffigkeit in den Umschaltmomenten verloren ging, erlaubte Hannover erst ihre riskante Strategie.“

Ich muss diesmal besonders lobend erwähnen, dass man explizit auf den psychologischen Moment eines Spiels eingegangen ist, welche für mich im Vergleich zur Taktik nicht unterschätzt werden darf.

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Max 13. November 2012 um 21:53

Wie immer eine hervorragende Analyse, danke!

Was mich noch interessieren würde: Wie hätte denn eine angemessene Reaktion seitens Labbadia ausgesehen? Maza für (den ohnehin glücklosen) Harnik als zweite Sechs bringen?

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