Türchen 18: Brasilien – Frankreich 1986

1:1*

Brasilien und Frankreich boten im WM-Viertelfinale 1986 ein taktisches und spielerisches Spektakel.

Eines der besten WM-Spiele der 80er

21.06.1986, WM-Viertelfinale

Zwei wahrhaft große Mannschaften trafen sich unter mexikanischer Mittagssonne in Guadalajara zum Duell: Platinis Frankreich –  zum damaligen Zeitpunkt amtierender Europameister, jedoch auf WM-Parkett letztlich unvollendet – gegen eine unterschätzte brasilianische Mannschaft, die immer unter dem Vergleich mit ihrem „Vorgänger“-Team von 1982 leiden musste. Vor allem begegneten sich zwei moderne und konstruktive Mannschaften mit gutem Mittelfeldspiel.

Besondersakalender-2016-tuerchen-18-bra-fra-1986 beeindruckend war der Rhythmus, der sich daraus ergab: Es ging mit enorm hoher Intensität hin und her – aber nicht weil mannschaftliche Defizite große Lücken innerhalb des Feldes ergeben hätten, sondern weil ein für die Zeit ungemein hoher Anteil an Aktionen mit bewusster, rationaler Konsequenz umgesetzt wurde. Man hatte nicht den Eindruck, dass auf die großen Momente erst einmal viele verschwendete, inkonsequente Szenen kommen mussten. Vielmehr braucht man auf starke Aktionen – verschiedenster Art, oft auch in Details – nicht lange zu warten – sie traten reihenweise auf, fast immer war irgendwo eine dabei. Es war eine sehr gehaltvolle Partie, ausgerichtet auf Zusammenspiel und mit vielen Elementen.

Kombinationsversuche gegen die Raute

Unmittelbar zu Beginn erwischten die Franzosen den etwas besseren Start. Herzstück bei der Equipe Tricolore war das Mittelfeld aus Platini, Giresse und dem kompletten Tigana. Während Letzterer etwas tiefer agierte und viele Räume stopfte, bauten die beiden anderen einen Großteil des französischen Vorwärtsspiels auf ihren kombinativ herausragenden Doppelpässen auf. In diesem Zusammenwirken gelangten sie – unterstützt von den vielseitigen Bewegungen der ebenfalls halbraumfokussierten Stürmer – sogar häufig zunächst einmal in Zwischenräume um das kompakte brasilianische Mittelfeld, meist zwischen Sechser und Achter.

Gegen die präsent besetzte Raute der Südamerikaner, die bis dahin die komplette WM ohne Gegentor durchgespielt hatten, war das eine stattliche Leistung. Das 4-3-1-2 gestaltete sich etwas asymmetrisch, da Müller sich situativ auf rechts weiter zurückzog und den Flügel blockierte, während Sócrates umgekehrt vereinzelt auf die andere Seite zurückfiel und Júnior eine höhere Position ermöglichte, also 4-2-2-2-mäßig. Alternativ bildete der Zehner durch weiteres Vorrücken sogar mal 4-3-3-0-Staffelungen, häufig um situativ tiefere Zurückfallbewegungen Platinis aufzunehmen.

Vor allem die hängende Müller-Einbindung ließ Frankreich im zweiten Drittel etwas häufiger aus dem eigenen halbrechten Bereich beginnen. Giresse forderte viele Bälle, später sollte auch der rationale, aufbaustarke Amoros dort präsent sein. Spielte der Europameister dann diagonal gegen die – eventuell leicht umgeformte – Raute ins Zentrum an, reagierte diese mit unterschiedlichen Bewegungen. Von der Sechserposition rückte der normalerweise zurückhaltender absichernde Elzo diesmal generell häufig heraus und zog seinen Deckungsschatten mit.

Brasiliens Herausrück- und Rückzugsbewegungen

Dahinter konnten beide nominellen Achter jeweils optional einklappen, ihre Einbindung unterschied sich aber voneinander. Grob gesagt, hatte zumindest gegen den Ball Alemão eher die horizontalen und Júnior eher die vertikalen Bewegungsmuster: Letzterer – nun im Karriereherbst von der Linksverteidiger-Position ins Mittelfeld gezogen – musste natürlich gegen Giresse ballnah herausschieben, zeigte aber auch viele tiefe Positionierungen unmittelbar an der Abwehrkette. Das erlaubte dann Elzo und vor allem Branco weiteres Herausrücken in die vorderen Räume, und wurde wiederum von Sócrates´ linksseitiger Tendenz ausgeglichen.

Dagegen hatte Alemão häufig auf außen zu tun, wo zunächst Tusseau und später auch Luis Fernández neben Stopyras Horizontalmovement sehr viel in die Breite arbeiteten. Vor allem aber ging es für ihn um einschiebende Rückzugsbewegungen gegen die bevorzugte französische Passrichtung von halbrechts diagonal ins Zentrum. Aus dem ballfernen Halbraum kommend, sollte Alemão diesen Ansätzen die Luft abschneiden. Zunächst drangen die Franzosen mit ihren spielstarken Kräften also gut in die Zwischenräume ein, wo sich dann ein hochwertiges Duell mit der brasilianischen Rückzugsbewegung entwickelte.

akalender-2016-tuerchen-18-bra-fra-1986-zwischenraum

Frankreichs Kombinationseinleitungen, Brasiliens Mittelfeld und Rückzugsbewegung. Pfeile in matt zeigen das Zusammenziehen um den Zwischenraum.

Aufmerksam schoben die einzelnen Spieler aus verschiedenen Richtungen – mit gutem Timing und ins Zentrum gerichteter Deckungsschattennutzung – in Überzahlen hinein und drängten den Gegner nach außen. Auch die Anbindung an Herausrückbewegungen eines Innenverteidigers passte harmonisch. Erfolgreiches Isolieren fand dann zumeist im eigenen linken Halbraum statt und konnte die Verbindung zwischen Platini und Giresse letztlich noch abtrennen. Das führte dazu, dass Frankreich oft vertikaler spielen und schneller über einen der beiden Kreativakteure die Interaktion mit den Angreifern suchen musste.

Gerade die Ansätze aus dem halblinken Zehnerraum Platinis konnten unter solcher Bedrängnis nicht ganz kontrolliert weitergeführt werden. Über die vielseitigen, rationalen Bewegungen Stopyras und später durch überraschende Läufe von Luis Fernández in jenem Bereich kam die Equipe Tricolore dort zwar einem Durchbruch recht nahe. Doch bei vielen ihrer Versuche konnten sie sich letztlich nur in Laufduelle mit den Abwehrspielern bringen, so dass die im Ganzen stabile brasilianische Endverteidigung gerade noch zu klären vermochte.

Tiefe Aufbaupräsenz in Gelb-Grün

Nach den ersten zehn Minuten bekamen die Brasilianer in der hochwertigen Partie leichtes Oberwasser. Ruhige Aufbaukontrolle war die Basis bei diesem Team von Telê Santana: Nur wenige Mannschaften hatten so viel tiefe Präsenz im Sechserraum. Aus diesen gelegentlich übertriebenen Staffelungen, denen daher mitunter die ausreichende Besetzung der vorderen Zonen abging, suchte Brasilien direkte Vertikalpässe durchs Zentrum, wo die Offensivkräfte mit kreativen Dynamikkombinationen in Unterzahl sich zügig durchspielen sollten. Dafür war Sócrates mit seiner hünenhaften Durchsetzungsfähigkeit und seinen verrückten Hackenablagen ein absoluter Schlüsselspieler.

Das hinderte ihn aber nicht daran, sich im Aufbau ebenfalls häufig zurückfallen zu lassen und Bälle abzuholen. Von der Zehnerposition ging er ins Mittelfeld zurück und agierte teils noch etwas ankurbelnder als sonst. Dabei sah sich Brasilien einem asymmetrischen 3-5-2 mit recht hohen Achtertypen, 4-1-3-2-Tendenz und verschiedenen Mannorientierungen bzw. -deckungen gegenüber. Gelegentlich bewegte sich Battistant für Zusatzpräsenz vor die Abwehr. Die beiden Stürmer der Franzosen positionierten sich etwas verbreitert im Halbraum. Das bot Brasilien die Mitte an, jedoch wurde diese Zone von ihnen ohnehin bevorzugt gesucht. Von daher entfalteten die französischen Angreifer trotz ihrer sauberen Ausführung kaum Wirkung:

Sie waren noch nicht im modernen Sinne an die mannschaftliche Systematik angebunden, agierten eher unintensiv und gerade Stopyra wurde zunehmend durch (Lupfer-)Pässe auf Alemão überspielt. Jedoch konnten sie zumindest ein allzu aggressives Aufrücken der gegnerischen Außenverteidiger vereinzelt blockieren. In diesem Zusammenhang wurde der rechte Achter der Seleção zu einem wichtigen Verbindungsakteur: Mit guter Positionsfindung besetzte er oft den Raum hinter der leicht erhöhten Positionierung Platinis. Nach Diagonalpässen aus dem Sechserraums schlug er halbrechts Brücken nach vorne und sorgte für einen ruhigen Übergang.

akalender-2016-tuerchen-18-bra-fra-1986-mittelfeldpraesenz

Brasiliens tiefe Aufbaupräsenz, Sócrates fällt zurück. Júnior rückt nach halbrechts, Alemão kann Raum hinter Platini finden. Bei Frankreich spielte Battiston teilweise vor der Abwehr und störte dort recht wirksam, Luis Fernández ziog sich dann weiter zurück.

Frankreichs Asymmetrie, Brasiliens Halbrechts-Fokus

Dass dieser Bereich mehr Präsenz hatte als die Zonen auf halblinks, lag auch an der Asymmetrie bei den Franzosen. In der achterartigen Mittelfeldkonstruktion spielte Giresse deutlich breiter als Platini, dahinter nahm Luis Fernández eine unorthodoxe Mischrolle ein – irgendwo zwischen Flügelallrounder, Achter und zur Seite gerücktem Sechser. Er agierte anpassungsfähig, übernahm etwa kürzere Manndeckungen gegen Sócrates oder Júnior, stopfte Löcher und ging häufig sechsermäßig in die Mitte. Manchen gegnerischen Spielzug konnte er dort mit plötzlichem Auftauchen abbrechen. Wenn notwendig, rückte er ballnah wieder zum Pressing auf seine Seite heraus und nahm Vorstöße Brancos auf. Diese flexible Aufgabenstellung verband er mit seiner spontanen, aber auch wechselhaften Spielweise.

Ob mit der Asymmetrie bewusst der brasilianische Aufbau vom Duo Júnior-Branco weg auf den kampfstarken, jedoch spielerisch unterschätzten Alemão und den etwas unruhigen Josimar geleitet werden sollte oder nicht: Zumindest war Frankreichs rechte Defensivseite in den ersten Linien etwas dichter und raumgreifender zugestellt, so dass etwa Elzos Herauskippen nach links gar nicht zum Einsatz kam und sich Brasiliens Zentrumsfokus eher rechtsseitig anlegte. Da die Südamerikaner sich rasch an diese Situation anpassten und Platini recht gut überspielen konnten, fiel es den Franzosen schwer, sie in den Übergangszonen zu isolieren.

Mit der etwas tieferen Spielweise Sócrates´ ging bei Brasilien eine Anpassung in der Rollenverteilung einher: Wie sich im Turnierverlaufe schon angedeutet hatte, zog es Júnior von der linken Achterposition häufig in den rechten Halbraum. Das geschah nun aber weniger im Zuge genereller Positionswechsel, etwa durch eine Übernahme der Zehnerposition bei Rückstößen Sócrates´. Vielmehr verschob sich Júnior zusätzlich nach halbrechts, quasi wie eine Überladung. Dies machte die halbrechte Angriffszone zum Schlüsselraum für die Bemühungen des Teams.

„Situativ-Verteidigung“ gegen Offensivverschiebung(en)

Erst recht galt das aufgrund der in diese Richtung verschobenen Sturmreihe: Neben Careca als Neuner war Müller auf rechts eine Art Pendelstürmer zwischen schnellen Grundlinienläufen, Diagonalsprints hinter die Abwehr und Einrückbewegungen in den hohen Halbraum. Unter wechselnder Einbindung der drei vorderen Mittelfeldspieler (phasenweise Júnior stärker passgebend, wenn Sócrates aggressiver vorstieß) spielten sie durch jene Zone einige sehr schöne Kombinationen. Das Paradebeispiel war das Führungstor, als der komplette Zentrumsblock ausmanövriert wurde und sich die letzte Linie dermaßen weit herüberziehen musste, dass Careca mit einem Querpass mittig komplett frei wurde.

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Brasiliens Führungstor: Sócrates zieht Tigana weg und öffnet den Passweg auf den einrückenden Júnior. Dessen doppelter Doppelpass mit Müller zieht die Abwehr herüber, Careca setzt sich ab und wird frei.

Durch den Fokus auf den rechten Halbraum mussten sich die tieferen Spieler Frankreichs dort zusammenziehen, woran gerade der mittelhoch postierte Luis Fernández nicht immer anschließen konnte. Dessen vielseitige Rolle bedeutete, dass der Europameister den rechten Defensivflügel nicht mit einem eindeutigen Außenverteidiger besetzte. Wegen der brasilianischen Offensivasymmetrie war das auch nicht unbedingt in klassischer Weise – also durch einen konstant dort postierten Spieler – nötig. Vielmehr sollte jene Flanke vielseitig von Bossis, Luis Fernández und Durchschieben der letzten Linie verteidigt werden – eben situativ.

Grundsätzlich bestand hierin auch eine der Stärken der französischen Defensive. An die manndeckungsartige Spielweise der nominellen Halbverteidiger gegen Müller und Careca passten sich die übrigen Abwehrakteure flexibel an und balancierten das Gebilde, neben dem aufmerksamen Battiston hier etwa der sonst eher farblose Tusseau mit gutem, absicherndem Einrücken. (Oder: Vielleicht wollten sie nur 4-3-1-2 mit einem Innen- und einem Außenverteidiger als Manndecker spielen, was dann zur Disharmonie und ungewollt zur aufwändigen Rolle von Luis Fernández führte.) Das französische Defensivspiel wehrte sich gegen die spielstarke Raute nach Kräften. Es funktionierte anders als der brasilianische Ansatz, insgesamt unruhiger, nicht so sehr auf kompakte Überzahl abzielend, stärker über den Einsatz ihrer flexiblen (Herausrück-)Bewegungen und teilweise die ungewöhnliche Grundstruktur kommend.

Ambivalenz der französischen Defensivspielweise

Trotzdem blieb die asymmetrische Ausrichtung ambivalent, gerade in Verbindung mit der manndeckenden Spielweise der Halbverteidiger. Einerseits konnte das die situative Verteidigung der rechten Defensivseite destabilisieren: Wurde der dortige Halbverteidiger weggezogen, konnte Brasilien die Lücken „neben“ der Abwehrkette ausdehnen. Dafür ließ sich Careca fallen und zog Bossis heraus, so dass Sócrates viel Raum vor sich hatte. Statt Nachstößen aus der Tiefe wurden diese Räume von den beteiligten Spielern selbst durch kurze Ausweichbewegungen attackiert.

Beim 0:1 setzte sich der Neuner selbst nach außen ab, als sein Gegenspieler zum Ball gezogen wurde. Die Brasilianer verzichteten häufig auf raumöffnende Verlagerungen im zweiten Drittel, weshalb sich auch der für gewöhnlich sehr offensive Branco auffällig zurückhielt. Erst in Strafraumnähe suchte die Seleção aus ihrem Fokusraum halbrechts den Weg herüber. So ließ sich die offene Seite plötzlich und dynamisch bespielen – im besten Fall, ohne dass Luis Fernández noch eingreifen konnte. Punktuell funktionierte es sogar gegen eine „vollständige“ Abwehrreihe, wie bei jenem Führungstor, das weder die Aufgabe der Manndeckung noch die Eingliederung Luis Fernández´ in die letzte Linie hatten verhindern können.

Andererseits boten die Manndeckungen der Halbverteidiger trotz gewisser Risiken bei ausreichend aggressiver Ausführung auch klar definierte Zugriffschancen und verhinderten etwa, dass Müllers Rochaden durchgehend mehrere Spieler beschäftigten. Auch deshalb war beispielsweise Tusseau gelegentlich frei, um diagonale Herausrückbewegungen ins Mittelfeld zu starten, mit denen er situative Mannorientierungen Tiganas oder Battistons gegen Sócrates absichern konnte. Der ausdauernde Raumfüll-Sechser agierte insgesamt flexibel, rückte oft vor und nahm offene Spieler auf.

Gegen diese wechselnden Herausforderungen, die auch von der Mischrolle Luis Fernández´ und das Vorrücken etwa Battistons ausgingen, verzettelten sich die Kanariengelben schon manchmal gruppentaktisch oder durch etwas zu viel Josimar-Fokus in den vorbereitenden, einleitenden Aktionen. Sócrates wiederum fehlte aufgrund der zahlreichen Ausweich- und Zurückfallbewegungen punktuell an entscheidenden Kombinationsstellen. Wenn unter diesen Umständen die brasilianischen Ansätze schon im halbrechten Ausgangsraum gestoppt werden konnten, fiel die ambivalente Balance der französischen Asymmetrie nicht mehr ins Gewicht.

Taktische Umstellung zur Verdichtung des Fokusraums

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Frankreich nach der Umstellung

Möglicherweise war dies ein Gedanke hinter der Umstellung, die Frankreichs Trainer Henri Michel etwa Mitte des ersten Durchgangs, nicht lange nach dem Tor für Brasilien, vornahm: Luis Fernández ging nach links, Tusseau agierte etwas tiefer, Amoros übernahm die rechte Seite. Das war zunächst eine einfache Umbesetzung zwischen den Positionen, bei ähnlich bleibender Systematik. Vermutlich sollte die anspruchsvolle, teils instabile Mischrolle statt Luis Fernández von einem tieferen, natürlichen Rechtsverteidiger besetzt werden. Schnell entstand aber eine Viererkette, mit Luis Fernández eine Linie höher.

Da dieser dabei auch immer mal breiter agierte, bedeutete das Zusammentreffen des magischen Mittelfeld-Quartetts keine klassische Raute. Im Grunde genommen spielte Frankreich ein enges 4-4-2 bzw. ein 4-3-2 mit zusätzlichem Flügelakteur links, dessen Zurückfallen einen schnellen Rückwechsel ins 5-3-2 ermöglichen konnte. Für die rechte Defensivseite brauchte man tatsächlich nur eine Einfachbesetzung – und das oblag nun zwecks ausgewogener Verteilung klar Amoros. Dafür gewann Frankreich mit Luis Fernández quasi einen Akteur auf dem gegenüberliegenden Flügel: Um die brasilianische Hauptzone herum sollte dadurch mehr Präsenz generiert werden.

Wenn Tigana hinter dem etwas höheren Platini nachschob, ergab sich praktisch ein 4-3-3 mit Giresse und Luis Fernández als versetzten Achtern. Nach zockenden Momenten zog sich der Kapitän dann häufig nach halbrechts hinten zurück. Wichtig war aber, dass Luis Fernández nun seine vielseitige Spielweise – irgendwo zwischen Rautenachter und Flügelallrounder – in passenderer Umgebung und konstanter Absicherung durch Tusseau einbringen konnte. Mal nahm er in sehr tiefer Position das Aufrücken Josimars auf, dann schloss er sich eng an die Mittelfeldreihe an und bildete ein über den brasilianischen Halbraum verschobenes, horizontal dichtes 4-4-2.

Das musste alles nicht immer einer festen  Systematik folgen. Später bildete Frankreich auch wieder ein „echteres“ 4-3-1-2 mit mehr Symmetrie, wobei die drei Akteure hinter Platini – Luis Fernández, Tigana und Giresse – recht wild umher tauschten. Für Brasilien waren das unangenehme Veränderungen, auf die man sich immer wieder neu einstellen musste. Zusammen mit dem Linkshang der französischen Gesamtformation – also einer neuen Asymmetrie – sorgte das dafür, dass die Südamerikaner bis zur Halbzeit etwas an Gefahrenpotential einbüßten.

Flügeldurchbrüche über Amoros bringen den Ausgleich

Aus der verstärkten Tendenz zur Viererkette bei den Franzosen ergab sich mit zunehmender Spieldauer bei eigenen Ballbesitzphasen eine unterschiedliche Rollenverteilung zwischen den nominellen Außenverteidigern. Auf rechts schaltete sich Amoros – als linker Halbverteidiger in die Partie gestartet – offensiv viel mehr ein als Tusseau und wurde zu einem Schlüsselspieler. Ein generelles Muster der Begegnung: Wenn Frankreich aus den Zwischenräumen noch die Kontrolle halten konnte, mussten sie die Situation gegen die kompakte Rückzugsbewegung Brasiliens mit Verlagerungen weiterführen.

Aufgrund der Vorbereitungsdynamik – einleitende Pässe diagonal von halbrechts, von Alemão geführtes Zusammenziehen aus dem anderen Halbraum ins Zentrum – richtete sich das fast immer auf den rechten Angriffsflügel. Punktuell agierte Branco etwas zu eng, auch Júniors tiefe Momente boten Möglichkeiten. Zu Spielbeginn hatten die Europäer wegen der eher gleichförmigen Außenspielerrollen in Verbindung mit Luis Fernández´ inkonstanter Art dort jedoch nur wenig Effektivität entwickeln können. Das änderte sich nun mit Amoros, der – bis auf komische Entscheidungen bei Weitschüssen – sehr rational spielte und ein gutes Timing bei seinen Läufen hatte.

Insbesondere in den letzten zehn Minuten der ersten Halbzeit wurden die Verlagerungen nach rechts immer gefährlicher und brenzliger. Die Franzosen kamen auf diesem Wege nun zu einem Chancenplus gegen die eben eher auf Passivität und Strafraumstabilität fokussierte Defensive Brasiliens, die sich gegen diese Zuspiele etwas zu zurückhaltend verhielt. Gelegentlich schaffte es der Europameister sogar, den Gegner im zweiten Drittel herauszulocken, Júniors Herausrücken zu überspielen und dann gegen die großen Abstände innerhalb der verbleibenden 4-2-Ordnung aufzurücken. Tigana schaltete sich nun in verschiedensten Bereichen als plötzlich auftauchender Staubsauger ein, sammelte geklärte Bälle auf und leitete dann in sehr kombinativer Art neue Versuche ein. Insgesamt trug er so zum Dominanzgewinn in dieser Phase bei.

Für ihre Bemühungen wurden die Franzosen schließlich kurz vor der Pause mit dem Ausgleich belohnt, natürlich nach einem Durchbruch auf rechts am Defensivblock vorbei. Die Vorbereitung lief hier jedoch etwas anders, nicht nach einer Verlagerung. Vielmehr rückte Amoros aufbauend in den Halbraum und konnte eine Lücke zwischen Elzo und dem ballnah herausrückenden Júnior finden. Auf den weiteren Angriffsverlauf bekam die gegnerische Rückzugsbewegung diesmal nicht mehr so sauber Zugriff. Am langen Pfosten verwertete Platini die Hereingabe, der halblinks nun stärker den Zug in den Sechzehner fokussiert hatte.

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Das 1:1: Amoros spielt hier gut hinter den herausgerückten Halbspieler, Elzo sichert einmal nicht ganz konsequent nach. So kommt die zusammenziehende Gesamtbewegung zu spät. Edinho muss die ballnah übliche situative Manndeckung aufgeben, letztlich wird der Schnittstellenpass aber möglich – wenn auch nur nach außen. Es braucht ein unglückliches Abfälschen der Hereingabe, damit der ballfern nachstoßende Platini am zweiten Pfosten einnetzt.

Umschaltaspekte

Da es auf so konsequente, kaum nachlässige Weise hin und her ging, entstanden Tempo und potentiell viele Umschaltsituationen. Zu Konterangriffen kamen aber letztlich fast nur die Brasilianer. Da sich bei den vor allem auf individueller und teilweise gruppentaktischer Ebene vergleichsweise ansehnlichen Gegenpressingansätzen beide Teams etwa die Waage hielten, lag jener Unterschied hauptsächlich an der defensiven Absicherung: Die Südamerikaner zehrten hier entscheidend von ihrer Tiefenpräsenz im defensiven Mittelfeld, die ihnen viel Personal hinter dem Ball und daher numerische Überlegenheit in der Restverteidigung gewährte.

Dagegen agierte bei den französischen Angriffen das ebenfalls vielseitige und kombinationsstarke Mittelfeld etwas weiträumiger und vertikaler. Auch auf den Flügeln fanden Aufrückbewegungen gleichmäßiger statt und waren systematischer für Läufe zur Grundlinie vorgesehen. So fand Brasilien einfach die besseren Ausgangssituationen für Konterangriffe vor und war daher die Mannschaft, die die ausweichende Spielweise ihres flexiblen Sturmduos wirksamer einbringen und ausschöpfen konnte. Letztlich war das sicher kein unwichtiger Punkt, aber nicht von spielentscheidender Bedeutung – denn auch für die gute, asymmetrische Rolle Müllers waren meist noch drei französische Gegner zu überwinden.

Brasiliens 4-4-2-Tendenz gegen Frankreichs Locken gefordert

Der junge Angreifer wurde nach 70 Minuten zugunsten einer Systemveränderung ausgetauscht. Für ihn kam der mittlerweile etwas gealterte und schon das ganze Jahr an verschiedenen Verletzungen laborierende Zico ins Team. Es war der erste größere Einschnitt in einer weiterhin packenden Partie, die zwischenzeitlich von beiden Seiten etwas vorsichtiger geführt worden war, sich in der unmittelbar jener Auswechslung vorausgehenden Phase aber wieder zu öffnen begann. Auch Frankreich hatte nun seinen leichten Strukturverlust nach den flexiblen Umstellungen und kleinere Probleme mit den Mannorientierungen hinten besser in den Griff bekommen – und kombinierte wieder gefälliger.

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Ab der 70. Minute

Bei Brasilien führte der Wechsel formativ zu einem engen 4-2-2-2/4-4-1-1 mit Alemão halbrechts und Sócrates halblinks – eine Ordnung, die sich bereits zuvor angedeutet hatte. Die zum Schluss etwas fitter wirkenden Franzosen versuchten die Defensive der Südamerikaner im Verlauf der zweiten Halbzeit stärker zu locken. Tigana links und vor allem Giresse rechts holten sich dafür immer wieder in breiten Positionen die Bälle ab, um den Gegner zum Herausrücken zu zwingen und so auseinanderzuziehen. Auch die zunehmenden Zurückfallbewegungen Platinis außerhalb des Mittelfeldblocks gingen in diese Richtung.

Insgesamt wurden die Brasilianer auch etwas unkompakter und mussten weitere Wege machen, bestimmte Bewegungen zunehmend auch mal individuell verfolgen. Gerade auf ihre linke Defensivseite verschoben sie aber weiterhin sehr gut 4-4-2-artig, mit Sócrates neben der Mittelfeldreihe und punktuell starker horizontaler Kompaktheit. Bei den Bewegungen zur Seite nutzten sie weiterhin den Deckungsschatten aufs Zentrum klug, Branco lauerte einige Male gut auf antizipatives Herausrücken und die Breite konnte bei Bedarf durch die dann wesentlich breitere Abwehrkette besetzt werden.

Starke französische Momente und gelungene brasilianische Verteidigungsaktionen wechselten sich ab. Für Letztere war die unverändert überzeugende Endverteidigung wichtig. In Phasen breiterer Mittelfeldstaffelung arbeiteten zudem die Stürmer punktuell weiter zurück und pressten dann sogar recht kompakt diagonal auf den französischen Sechserraum. Dass Müller und Careca häufiger die Seiten getauscht hatten, erwies sich offensiv wie defensiv als interessant gegen die Asymmetrien der Equipe. Wichtig für Frankreich war der zunehmend offensiver werdende Tigana, der mit wilden Aufrück- und Gegenpressingaktionen teilweise sehr gefährliche Szenen einleitete.

Flügelaufrücken und überraschende Tiefenvorstöße zum Ende

Darüber hinaus schaltete sich nun Battiston häufiger vorne ein. Die Franzosen hatten im zweiten Durchgang endgültig zu einer Rautenformation mit Luis Fernández als Sechser gefunden, der sehr tief vor der Abwehr und horizontal enorm weiträumig agierte. Mehrmals füllte er nicht nur Lücken innerhalb der letzten Linie, sondern reihte sich auch seitlich neben der Abwehr ein. Im Zuge seines eigenwilligen Positionsspiel interpretierte er den Sechserposten frei – und das trotz der zunehmend aufgedreht herum driftenden Kollegen vor ihm. Bei eigenem Ballbesitz blieb er ebenfalls sehr tief, sicherte hier aber die Vorstöße Battistons im rechten Halbraum ab.

Nach Diagonalpässen von Giresse vom Flügel sorgten diese Bewegungen hinter dem Mittelfeld einige Male für Raumgewinn und Gefahr. Gegen die Endverteidigung der Südamerikaner hatte die Equipe Tricolore im vertikaler werdenden Gesamtrhythmus aber zunehmend Probleme beim Ausspielen derartiger Szenen im Angriffsdrittel. Sie versuchten das zunehmend individueller zu lösen, mit schwierigen Dribblings oder frühen Abschlüssen. Gerade Platinis Vorwärtsbewegungen übergingen sie zu oft. Einzelne vorlaufende Aktionen wie jene von Battiston brachen sich generell häufiger Bahn.

Bei Brasilien schlüpfte Branco nun zunehmend in eine solche Rolle, wenngleich weniger systematisch, sondern häufiger aus Umschaltszenen heraus. Nach seinen Balleroberungen startete er weiträumige, balltreibende Dribblings gegen mehrere Gegner. Diese waren sehr wertvoll und brachten nach 75 Minuten sogar einen Elfmeter, den Zico jedoch vergab. Generell lief der Ballvortrag der Grün-Gelben nun stärker über die Außenverteidiger: Branco schleppte auch im Aufbau Bälle, Josimar erhielt viele Verlagerungen im Zuge von Positionsangriffen um den sauberer, aber unkompakter gewordenen 4-3- oder mal 4-2-Block Frankreichs herum.

Das bedeutete mehr Flügelangriffe, neben einigen Flanken dribbelte der Rechtsverteidiger in der offener werdenden Begegnung häufig diagonal Richtung Strafraumeck, um dann quer zurück in die Mitte zu spielen. An der letzten Linie hatte Sócrates einige kreative Ablagen in den Rückraum. Auch Zicos Erfolgsstabilität in Zwischenräumen konnte bezahlt machen, während die Gesamtkonsequenz nachließ. Dieses sorgte letztlich aber dafür, dass keine der beiden Mannschaften noch eine entscheidende Aktion vollenden konnte, auch wenn lichte Momente und spektakuläre Szenen – etwa Carlos´ ungeahndete Notbremse – immer wieder auftraten.

Nachwort

Weil das Spiel so krass war, wurden nochmal 30 Minuten draufgelegt. Die Entscheidung sollte im Elfmeterschießen zugunsten der Franzosen fallen. Beide Teams hätten sich das Weiterkommen verdient gehabt. Frankreichs gefälliges und systematisch variables Spiel beeindruckte und schien ihnen nun gute Titelchancen zu bieten – Beckenbauers DFB-Team kam dem aber zuvor. Das Finale sollte übrigens später auch ziemlich gut werden.

Mit dem Viertelfinal-Aus wurden die Brasilianer von 1986 endgültig zu einer unterschätzten Mannschaft, der immer der spektakuläre Schatten von 1982 nachhing. Was sie taten, geschah zwar aus einer defensiven Grundausrichtung heraus, aber in vielen Szenen boten sie einfach tollen Fußball mit Zaubertricks zwischendurch. Auch über das Defensivspiel und den Zentrumfokus der Mannschaft von Telê Santana könnte man noch viele lobende Worte verlieren.

Insgesamt blieb letztlich zu diesem Viertelfinale zu sagen: Auch wenn sich keiner der beiden Kontrahenten mit dem Ticket für das – wie gesagt, auch sehr interessante – Finale belohnen konnte, lieferten Frankreich und Brasilien hier ein absolutes Highlight der WM-Geschichte.

Schorsch 18. Dezember 2016 um 22:32

Wow! Was für eine Analyse eines Granatenspiels! Hut ab, TR! Ich habe den Eindruck, die Spielanalysen werden immer intensiver, je näher der 24. rückt.

Ich weiß nicht, ob es so etwas wie ein ‚ranking‘ der besten WM-Spiele aller Zeiten gibt. Wenn ja, dann müsste dieses Spiel in der ‚Top 20‘, wahrscheinlich sogar in der ‚Top 10‘ auftauchen. Ein Spiel, dass keinen Sieger verdient hatte und auch folgerichtig Remis endete. Da aber nun ein Sieger ermittelt werden musste, musste es halt wieder einmal das Elfmeterschießen richten. Grausam für das unterlegene Team, aber von allen schlechten Möglichkeiten halt die beste.

Für mich war die Équipe Tricolore nach diesem Spiel Favorit auf den Titel. Aber gegen das Defensivbollwerk des Kaisers fand man im Halbfinale einfach kein Rezept. Ein frühes und ein spätes Tor der DFB-Auswahl (das zweite war ein sehr schönes Kontertor von Rudi Völler), keines der Franzosen. C’est la vie…

Dass die 82er Mannschaft der Brasilianer im eigenen Land den höheren Stellenwert genießt als die 86er hat in der Tat mit dem defensiveren Ansatz der letzteren zu tun. Fußball als Kunst, offensiver fußball selbstverständlich. Die 82er-Elf genießt auch nach wie vor den höheren Status als die 94er-Championstruppe und wird neben der 70er-WM-Elf als die beste brasilianische aller Zeiten angesehen. ‚Dunga-Fußball‘ ist eben etwas anderes als ‚Zico-Fußball’… Wobei ich die 58er-WM-Mannschaft stärker einschätze, wenn man überhaupt solche Vergleiche für statthaft hält.

Ja, Zico. War tatsächlich etwas in die Jahre gekommen, nicht recht genesen von diversen Verletzungen. Aber das ganze Stadion rief seinen Namen, wollte ihn eingewechselt sehen. Als er dann kam, gab es einen Riesenjubel. Das war selbst im TV zu hören. Seine erste Aktion war dann auch gleich ein Klassepass auf einen Mitspieler, der im Strafraum gefoult wurde. Den Elfmeter schoss Zico, Socrates flüsterte ihm die Ecke zu, in die er schießen sollte. Leider oder Gott sei Dank, je nach Blickwinkel, war es die falsche Ecke; Bats hielt. Im Elfmeterschießen verwandelte Zico dann seinen Strafstoß. Hätte er den im Spiel verwandelt… Aber ‚hätte, wenn und aber‘ zählt halt nicht. Dennoch wurde in Brasilien nach dem Spiel viel diskutiert, was ein gesunder und in Form befindlicher Zico gebracht hätte.

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fluxkomoensator 18. Dezember 2016 um 15:36

https://m.youtube.com/watch?v=1pbx0-CGL3g

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