Türchen 3: Portugal – England 2004

8:7 n.E.

Im Viertelfinale der Europameisterschaft 2004 traf Portugal auf England. Dabei konnten sich die Portugiesen im Anschluss an eine mitreißende Partie im Elfmeterschießen durchsetzen, in dem Torhüter Ricardo zum kleinen Helden wurde.

Große Namen auf beiden Seiten

Sowohl die Engländer als auch die Portugiesen warteten mit einer Reihe großer Namen in den Startformationen auf.

Aufstellungen und Offensivmuster.

Aufstellungen und Offensivmuster.

In der 4-4-2-Grundordnung der Briten gab es mit Owen und Rooney zwei bewegliche Stürmer, die viel über lange Zuspiele in die Tiefe und in die Halbräume angespielt werden sollten. Mit weiten Flugbällen wollte man Räume für nachstoßende Bewegungen der einrückenden Flügelspieler Beckham und Scholes öffnen. Auf der Doppelsechs interpretierte Gerrard seinen Part deutlich tiefer, absichernder und im Aufbau zentraler als Lampard, der viele vertikale Läufe nach vorne zeigte. Neville und Cole auf den Außenverteidigerpositionen agierten hin und wieder nachstoßend und aufrückend, hielten sich aber in der Regel in der Offensive zurück. Campbell und Terry in der Innenverteidigung taten vornehmlich das, was sie am besten konnten (Verteidigen), und verzichteten auf das, was sie nicht so gut konnten (Spielaufbau).

Die Portugiesen agierten im Gegensatz zu den Engländern mit lediglich einer Spitze aus einer 4-1-4-1-/4-2-3-1-Grundordnung heraus. Stürmer Gomes sollte sich im Auf- und Übergangsspiel zunächst durch horizontale Ausweichbewegungen in der Tiefe anspielbar machen. In den weiteren Spielphasen interpretierte er seine Rolle dann als Hybrid zwischen hoch agierendem Kombinationsspieler und das Zentrum besetzendem Mittelstürmer. Im Mittelfeld gab es mit Costinha vor der Abwehr einen zentralen und tief agierenden Akteur, der wenig in das Spiel mit Ball eingebunden war und gegen den Ball nahe an der eigenen Viererkette spielte. Maniche agierte als vertikaler Akteur vor Costinha und versuchte den Aufbau an das Angriffsspiel über viele ballschleppende Dribblings anzubinden. Mit Deco gab es auf der Zehnerposition bzw. der tiefen Achterposition einen Akteur, der zum einen als hoher Kombinationspartner für Gomes oder die beiden Flügelspieler Figo und Ronaldo in engen Räumen dienen sollte. Zum anderen versuchte Deco die einrückenden Bewegungen Figos vom linken Flügel zur Mitte auszugleichen und als Gegengewicht im anderen Halbraum für eine ausgeglichene Spielfeldbesetzung zu sorgen, wenn Maniche hier nicht anspielbar war. Um auf dem linken Flügel trotz des eingerückten Figos bespielbare Breite vorzufinden, schob Linksverteidiger Valente früh und weit nach vorne. Der junge Christiano Ronaldo, der auf dem rechten Flügel begann und dort auch über weite Strecken des Spiels verblieb, suchte aus einer breiten Position immer wieder Dribblings und rückte bei Angriffen über den linken Flügel in das Sturmzentrum neben Gomes. Im Laufe des Spiels wechselten Ronaldo und Figo aber auch immer wieder die Seite.

Scheinoffene erste Halbzeit

Bereits in den Anfangsminuten, in denen die Engländer durch Owen in Führung gingen, entwickelte sich eine temporeiche und scheinbar offene Partie. Dies lag unter anderem darin begründet, dass die Engländer auf längere (aber auch kürzere) Phasen der Ballzirkulation im Aufbau verzichteten und stattdessen schnell nach vorne spielten. Die in ihrer Gesamtausrichtung sehr vertikale Doppelsechs aus Gerrard und Lampard verstärkte diesen Effekt noch, weil Lampard wie erwähnt viele vertikale Läufe und Dribblings zeigte und auch Gerrard über längere Schnittstellenpässe schnell nach vorne kommen wollte. Diese Spielweise der Engländer führte in dieser Phase des Spiels dann dazu, dass die Briten zwar schnell viel Raum überwinden konnten und in der Tiefe auch zu öffnen vermochten, allerdings nur mit maximal fünf Spielern (im Mittel eher drei bis vier) nachrücken konnten, an die der Rest der Mannschaft kaum Bindung halten konnte. Zwischen den beiden ‚Mannschafsteilen‘ entstehende Räume konnte Portugal anschließend zum Kontern nutzen, wobei England diese Konter in der Regel mit dem Rest der Mannschaft (immerhin auch noch mindestens fünf Spieler) am Strafraum festfahren konnte. Weil sich auch Portugal gegen Englands Spielweise in der Strafraumverteidigung recht solide zeigte, bot sich den Zuschauern ein Spiel mit vielen aneinandergereihten Richtungswechseln und Schnellangriffen, die aber fast nie zu klaren Torchancen führten.

Interessanter Rhythmus bei Portugal

Mitte der ersten Halbzeit gelang es den Portugiesen dann zu längeren Phasen in Ballbesitz zu kommen. Dabei erzeugte die Mannschaft durch ihre Art zu spielen einen interessanten Rhythmus, mit dem die Engländer so ihre Probleme hatten. In der Mannschaft des späteren Finalisten war die Ballzirkulation derart angelegt, dass sie sich vieler Dribblings und anschließender Verlagerungen bediente. Durch gezieltes Schleppen des Balles sollte England dazu gezwungen werden mit zwei bis drei Spielern lokal um den Ball zusammenzurücken. Mit den anschließenden horizontalen Verlagerungen wollte man dann einzelnen Spielern Raum zum freien Aufrücken geben oder die Möglichkeit in offene direkte Duelle zu gehen. Dementsprechend oft war es auch Ronaldo, der den Ball nach Verlagerungen am Flügel erhielt. Die diagonale Verlagerungsstruktur aus dem Zentrum auf einen der beiden Flügel war für die Portugiesen in dieser Partie typisch.

Die Engländer versuchten diese Spielweise der Portugiesen so zu verteidigen, als dass sich die Mannschaft von Trainer Eriksson rund um den eigenen Strafraum in zwei nominellen Viererketten positionierte. Dabei agierten die beiden Flügelspieler Beckham und Scholes deutlich losgelöst von den beiden Sechsern, sodass sich im Mittelfeldband kein klassisches Kettenverhalten ergab. Weil Rooney – später dann Vassell – und Owen sich im Spiel gegen den Ball weniger aktiv beteiligten und stattdessen lediglich den Sechserraum der Portugiesen zustellten, war diese Spielweise allerdings nicht passend, um wirklich Druck auf den ballführenden Gegenspieler am Flügel machen zu können. Die Portugiesen kamen dahingegen aber auch selbst nicht zu Chancen.

Chronologie des Spiels und ein Elfmeterkuriosum

Vor allem in der zweiten Halbzeit waren die Portugiesen der genannten Gründe wegen das deutlich überlegene Team. Owen und der für Rooney eingewechselte Vassell versuchten zwar phasenweise gemeinsam gegen den Ball zu arbeiten, zu einer grundsätzlichen Änderung der Spieldynamik führte das aber nicht. Trotz einiger Möglichkeiten gelang Scolaris Team der verdiente Ausgleich erst kurz vor Schluss durch den ebenfalls eingewechselten Postiga. In der Verlängerung gingen die Portugiesen dann sogar durch den Treffer von Rui Costa in Führung, der zuvor in die Partie gekommen war, ehe England durch Lampard noch zum Ausgleich kam.

Im Elfmeterschießen vergab Beckham dann schon zu Beginn den ersten Versuch. Die Engländer hatten zunächst Glück, dass auch Rui Costa – der dritte Schütze der Portugiesen – über das Tor zielte. Das Kuriosum dieses Spiels: Nachdem Ricardo beim Treffer von Cole zum sechsten Mal in Folge in die falsche Ecke gesprungen war, trat er beim siebten Elfmeter der Engländer ohne Handschuhe an und parierte prompt gegen Vassell. Die anschließende Einschussmöglichkeit nutzte der Torhüter dann selbst und schoss seine Mannschaft so ins Halbfinale.

Izi 4. Dezember 2016 um 16:43

Danke für dieses Türchen! 🙂 Ich war damals neutral, hab aber bei beiden Teams irgenwie mitgefiebert, wenn sich Chancen boten. So gesehen war sas Ergebnis für mich optimal 😉
Als dann Rooney durch ein Foul der Schuh ausgezogen wurde und er erst ohne Schuh weiterspielte, bevor er ihn anziehen musste, um dann seinen Mittelfußbruch zu bemerken, hatte die Euro für mich den emotionalen Höhepunkt erreicht. (Die Deutsche Elf war da ja schon daheim…)

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Schorsch 3. Dezember 2016 um 23:36

Schon irgendwie seltsam, sich an Christiano Ronaldo als rechten Flügelspieler zu erinnern, der dann auch noch diese Position konsequent gehalten hat. War aber so in seiner Anfangszeit.

Was die Spielweise der Engländer in der 1. HZ anbelangt, so würde mich einmal eine Auswertung nach ‚überspielten Gegnern‘ interessieren, falls so etwas retrospektiv machbar ist. Besonders effektiv war sie jedenfalls nicht, obschon man in Führung ging.

Kann mich noch gut an dieses Spiel erinnern. War eine kuriose Situation. An diesem Abend nahm ich an einem Geschäftsessen in einem Hotelrestaurant teil. Teilnehmer waren u.a englische Partner. In der Bar des Hotels war ein TV-Gerät und es wurde das besagte Spiel gezeigt. Die Gänge zur Toilette nahmen immer mehr zu, bis sich schließlich alle an der Bar versdammelt hatten. Auch Hotelangestellte waren dabei, darunter einige Portugiesen. War ein ziemliches Hallo. Wir haben uns aus Respekt vor unseren englischen Gästen recht neutral verhalten, die anderen deutschen Gäste in der Bar waren aber sämtlich für die Portugiesen. Die englischen Gäste hatten einen sehr schweren Stand; der Jubel beim verschossenen Elfmeter von Beckham war die reine Schadenfreude. No sportsmanship, sozusagen. Wurde dennoch noch ein langer und schöner Abend… 😉

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blub 3. Dezember 2016 um 15:48

Gerrard/Lampard doppel6 und scholes auf dem flügel. Das nenne ich verdient ausgeschieden.

P.S: Hier wurde die möglichkeit für eine nette BIldunterschrift verpasst, etwa „Kompaktheit leicht höher als im Original.“

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HW 4. Dezember 2016 um 12:24

Das war noch eine andere Zeit. Zum einen waren die französische Nationalelf und die englische Liga der Orientierungspunkt. Fast jede Nation hätte Gerrard oder Lampard gerne genommen. Und Scholes war damals noch ein linker Mittelfeldspieler. (So wurden zumindest die Spieler kategorisiert.)
Trotzdem zeigt die Aufstellung der Engländer klar die Masse an Talent und gleichzeitig die Schwierigkeit oder sogar Unfähigkeit eine funktionierende Mannschaft zu formen.
Damals dachten wahrscheinlich viele: Lampard und Gerhard muss einfach ein gutes Duo ergeben. Heute weiß man es besser. Drei Spieler km Zentrum hätten den Engländern besser gestanden. Aber wie stellt man dann vorne um? Die Engländer waren fast verdammt durch das verfügbare Talent. Es passte nicht perfekt zusammen und es passte nicht perfekt in die englische Tradition.

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Izi 4. Dezember 2016 um 16:53

Man kann das auch mit Spanien unter del Bosque vergleichen: Busquets, Alonso, Xavi, Iniesta und Fabregas möglichst alle bringen und bitte alle im zentralen Mittelfeld!
Sowohl Eriksson als auch del Bosque hätten mit dem gordischen Knoten weniger Mühe gehabt…

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