Dominanter Underdog weist Alibi-Fußball in die Schranken

0:3

Russland scheidet wie erwartet in der Vorrunde aus. Wales kommt wie erhofft weiter. Und findet sich nun als Gruppenerster auf der nominell schwächeren Seite des Tableaus wieder. Ist womöglich sogar Hoffnung auf mehr berechtigt?

Die Mannen aus dem Westen Großbritanniens liefen gegen Russland in fast üblicher Besetzung auf, bei der sich vieles um das Dreieck aus Bale, Ramsey und Allen in einem überaus kollektiven Rahmen dreht. Einzig Vokes kam im Vergleich zum Spiel gegen England für Robson-Kanu in die Mannschaft und übernahm auch nahezu dieselbe Rolle.

Bei der Sbornaja änderte sich im Gegensatz dazu etwas mehr. Der alteingesessene Shirokov ersetzte Shatov auf der Zehnerposition, Kombarov übernahm Schennikovs Posten als Linksverteidiger. Die Doppelsechs wurde darüber hinaus komplett ausgetauscht. Mit Mamaev und Glushakov kamen zwei Spieler herein, die optimalerweise eher auf der Achterposition zu Hause sind. Dafür musste der junge Golovin ebenso weichen wie der ewige SV-Hipstar Roman Neustädter. Gerade das Fehlen der subtilen Fähigkeiten von letzterem sollte sich bemerkbar machen.

Grundformationen

Die Aufstellungen beider Teams.

Wales being Wales

Wales zeigte von Beginn weg einmal mehr, was es unter Chris Coleman auszeichnet: Flexibilität. Das Team orientiert sich weder an starren Anordnungen noch an klaren Zuteilungen, sondern passt sich kollektiv der auftretenden Situation an.

Dabei wechseln sie gegen den Ball geschickt zwischen Phasen höheren Attackierens und einer sehr tiefen Positionierung am eigenen Strafraum. Je nach Situation können einzelne Spieler mannorientiert zugestellt oder bewusst freigelassen werden. Die letztliche Staffelung wird dabei oft maßgeblich davon bestimmt, was die nominellen Star-Spieler, vor allem Ramsey, machen. Steht er höher, gibt es oftmals ein 5-2-3 zu sehen, geht er tiefer, so ist es ein 5-3-2. Dabei wechselt er jeweils auch zwischen der linken und rechten Seite, wobei letztere am ehesten seinen Grundbereich darstellt.

Auch Gareth Bale hat hier gewissen Einfluss. In einer der ersten Szenen des Spiels blieb er beispielsweise etwas tiefer auf halbrechts und es entstand eine Art 5-3-2 mit asymmetrischen Achtern. Bei Zurückfallen auf einen der Flügel ergab sich darüber hinaus insbesondere in tieferen Zonen das typische 5-4-1. Durch Vorrücken von Allen oder vereinzelt auch Ledley konnte es wiederum zu 5-2-1-2- oder 5-2-2-1-Staffelungen kommen. Gegen Russland orientierten sich darüber hinaus die Flügelverteidiger recht klar an den russischen Außenverteidigern und rückten immer wieder auf diese heraus, was verschobene Viererketten oder vereinzelt auch mal Dreierketten erzeugte.

Zusätzlich zeigten die Halbverteidiger gutes Timing beim Herausrücken aus der Kette und konnten so immer wieder Lücken füllen oder für zusätzlichen Zugriff sorgen. Für limitierte Gegner ist Wales eine einzige große Pressingfalle.

Russland hat kein Konzept in Ballbesitz…

Die Russen hatten dem nicht viel entgegenzusetzen. Ihnen mangelte es gerade im Zentrum an Verbindungen und an der nötigen Balance (kein Wunder, wenn man Neustädter nicht spielen lässt). Sowohl Shirokov als auch die beiden Flügelstürmer orientierten sich recht früh in den Zwischenlinienraum beziehungsweise an die letzte Linie, während die beiden Außenverteidiger Breite gaben. Hinten wirkten die Innenverteidiger wie üblich eher hölzern. Vereinzelt konnte Ignashevich mit vertikalen Bällen zwischen die gegnerischen Reihen mal andeuten, dass er eigentlich ein ganz ordentlicher Fußballer ist. Berezutski dribbelte ein paar Mal an.

Ansonsten liefen Glushakov und Mamaev im Mittelfeld herum, waren gegen die Waliser aber auf sich allein gestellt und wurden zumeist auf Außen abgedrängt. Eine typische Szene war beispielsweise: Smolnikov erhält im rechten Halbfeld den Ball, 5 Spieler stehen ganz vorne, keine Verbindung zum Zentrum, Halbfeldflanke, Konter Wales.

Auf links gab es mit dem ausweichenden Mamaev, der beim FC Krasnodar auch häufiger auf der Position des Flügelstürmers spielt, schon eher mal Ansätze von Kombinationen und ein paar sich ergänzende Bewegungen. Smolov und Kokorin waren dabei durchaus engagiert, bewegten sich viel und auch mal bis zur jeweils anderen Seite herüber. Doch organisiert wirkte das Ganze kaum. Hohe Bälle auf Dzyuba stellten somit ständig einen Ausweg, aber keineswegs eine Lösung dar.

Es zeigte sich in vielen kleinen Szenen der Unterschied zwischen dem Kollektiv, das bei gegnerischen Pässen in den Zwischenlinienraum sofort mit mehreren Spielern Zugriff zu erzeugen versuchte, Optionen bewusst anbot, auf Pässe lauerte und dem eher improvisierten Haufen, bei dem es wenig bis gar keine strukturierte Unterstützung in derlei Szenen gab.

Gestatten: Das Neustädter-Loch

Gestatten: Das Neustädter-Loch

…Wales schon.

Nach Ballverlusten war das Mittefeldzentrum entblößt, die beiden Abwehrspieler standen tief, die Waliser konnten mit Tempo auf sie zulaufen. Hierbei hatten sie eine sehr gute Abstimmung und zeigten hervorragend zueinander passende Bewegungen. Einer zog beispielsweise nach Außen und einen Russen mit dorthin, während der Ballführende den geöffneten Raum anlaufen konnte und ein Dritter sich für die Anschlussaktion in Position brachte. Darüber hinaus erwies sich Vokes als sinnvolle Option für Ablagen.

So ließ sich selbst in klarer Unterzahl gegen überforderte Gegner, die zwischen dem Wunsch, hoch raumorientiert zu verteidigen, und bloßem Verfolgen von Gegenspielern schwankten, fast schon nach Belieben Dominanz erzeugen. Bei der Sbornaja endete das oft in unkontrollierten Aktionen, in denen weder Druck auf den Ball gemacht noch mögliche Passoptionen abgeschnitten werden konnten. Ein Blick auf die Gegentore sollte hier als Beispiel genügen.

Im geordneten Pressing gab es zu Beginn wiederum einige Versuche, früh zu attackieren, die ebenfalls mannorientiert und nicht unbedingt kohärent ausgeübt wurden. So stellten in 4-2-1-3-haften Staffelungen die Flügelspieler und Dzyuba teils klar, teils lose die walisische Dreierkette zu, während Shirokov dahinter eng an Ledley blieb. In der Anfangsphase ging Smolnikov ein paar Mal sogar weit mit nach vorne, um sich dem Flügelverteidiger der Waliser zu widmen. Die beiden Sechser orientierten sich lose an Allen (Mamaev) und an Ramsey (Glushakov).

Immer wieder konnte sich vor allem Allen geschickt lösen und war so etwas wie der freie Mann zwischen der vorderen und mittleren Pressinglinie der Russen – auch als diese begannen etwas tiefer anzugreifen, aber weiterhin auf der ständigen Suche nach Zuordnungen agierten. Über diesen Weg oder auch mal über die Flügelverteidiger, über Vorstöße aus der Dreierkette, über Ramsey oder über eingestreute lange Zuspiele bauten die Waliser Dominanz auf. Sind eben variabel, gut abgestimmt und gewillt, konstruktiv vorzugehen.

Das Ende

Daran sollte sich auch in der zweiten Halbzeit zum Leidwesen der russischen Mannschaft nichts Grundlegendes ändern. Erst recht nicht, nachdem Bale in der 67. Minute noch auf 3:0 erhöhte. Als Russe (davon soll es bei Spielverlagerung angeblich welche geben) kann man sich eigentlich nur noch vor der WM im eigenen Land fürchten. Für Wales kann es derweil gar nicht hoch genug hinausgehen. Wo auch immer diese Reise enden mag: Sie bereitet Freude.

GatlingJ 23. Juni 2016 um 20:35

zu Wales und schwächere KO-Seite:
konnte das eigentlich irgendwie vorher abgesehen werden, sprich hat da jemand im Plan die Hand drauf gehalten, damit sich genau so eine Seite ergibt? Oder ist das zu abwegig, weil ja eigentlich SPA als Erster dahin gehört hätte?
Wie auch immer: Bedeutet jetzt wohl in der Konsequenz, dass man im Finale mindestens einen „Überraschungsteilnehmer“ drin hat. Weiß nicht wie ich das finden soll, ist zwar auf der einen Seite spannend, weil es dann wohl Favorit gegen Underdog heißt, auf der anderen Seite isses irgendwie auch shiet, dass sich die großen Nationen alle – bis auf eine – vorher schon rausschmeißen.

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HK 23. Juni 2016 um 20:56

Irgendjemand hat sicher alles vorausgesehen. Und vielleicht einen Haufen Kohle damit gemacht.
Für uns Normalsterbliche eher nicht zu prognostizieren. Setz doch einfach die Papierformfavoriten in den Spielplan ein und dann sieht das schon ganz anders aus.

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HW 24. Juni 2016 um 17:26

Was bedeutet denn „schwach“. England als zweiter ist vielleicht nicht passend zur Reputation … Moment mal, sind die sonst der große Titelfavorit? Ich denke nicht. Die Slowakei ist sicher genauso gefährlich. Insgesamt waren die Top 3 in der Gruppe nahe beieinander, wie soll man die Reihenfolge sicher voraussagen?
Spanien und Kroatien sind eine kleine Überraschung. Aber nur die Reihenfolge.
Einzig Gruppe F ist eine echte Überraschung. Portugal als Dritter ist sogar noch in die angeblich leichte Hälfte der KO-Runde gerutscht.

Durch den eher komplizierten Mechanismus mit den Drittplatzierten, war nicht die komplette Ansetzung ‚voraussehbar‘. Die Dritten wurden Einfach zu sehr hin und her geschoben, abhängig von anderen Dritten.
Die angeblich schwere Hälfte der KO-Seite hat die Slowakei bekommen. Die andere Hälfte hat Portugal von den Fritz platzierten bekommen.

Bei den Zweitplatzierten war Spanien die einzige echte Überraschung und ist im „falschen“ Baum. Aber Spanien und Italien werden sich gegenseitig ausschalten.
England sehe ich nicht stärker als Wales. Sie sind anders, aber nicht wirklich schwerer zu spielen für einen der Favoriten. Dazu ist Island in der ’schweren‘ Hälfte. Da hätte doch jeder mit Portugal oder Österreich gerechnet (wobei die Form von Island spricht und gegen Österreich).

Man muss sich einfach davon lösen EM oder WM Titel aus den 60ern bis 90ern als Maßstab für einen schweren Gegner zu sehen. Polen ist auch gut, so wie Kroatien, und andere Teams aus der KO-Hälfte.

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Rasengrün 23. Juni 2016 um 02:58

Als Russe müsste man doch eigentlich diesen frühzeitigen Schuss vor den Bug eher begrüßen. Das kann man sich jetzt nun wirklich nicht mehr schön reden, also weitaus besser als wenn sich die Sbornaja irgendwie durch die Vorrunde gerettet hätte. Das dringender Handlungsbedarf besteht war schon vorher klar, aber angesichts der russischen Strukturen hat es exakt so eine völlig offensichtliche Demonstration der Unzulänglichkeit wahrscheinlich gebraucht.

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HW 23. Juni 2016 um 08:04

Frühzeitig?

Das Problem (für die Russen) ist doch, dass die Russen jetzt in ihr Heimturnier gehen ohne eine Mannschaft die bei dieser EM Turnierluft schnuppern könnte.
Wie kurzsichtig muss man sein wenn man seine eigene (nicht so schlechte) Jugend im letzten Turnier vor der Heim-WM so außen vor lässt? Den Umbruch muss es doch unabhängig von den Ergebnissen eh geben.

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koom 23. Juni 2016 um 09:29

Wirklich merkwürdig aus russischer Sicht. Normalerweise wird doch vieles generalstabsmässig geplant, organisiert und durchexerziert. Aber ein paar Wochen vor dem Turnier noch einen zentralen Spieler einbürgern – das ist doch albern.

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HW 23. Juni 2016 um 11:10

Ich will hier nicht die russische Seele diskutieren, da verbrennen wir uns wahrscheinlich in Vorurteilen.
Meiner persönlichen Erfahrung nach hängt die Planung aber davon ab was der Chef sagt.

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Rasengrün 23. Juni 2016 um 20:27

Nuja, frühzeitiger als erst bei der Großveranstaltung vor eigenem Publikum. Ob rechtzeitig? Keine Ahnung, aber zumindest kann eben jetzt der dringende Handlungsbedarf nicht mehr ignoriert werden. Weiteres mag ich nicht wirklich mutmaßen, aber wenn du es schon aufwirfst: Bliebe immer noch die Frage welcher Chef von was? Ist Putin nicht eher Eishockey?

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HW 24. Juni 2016 um 17:34

Ich weiß nicht wer im Fußball das Sagen hat. Aber, wenn die Scheiße richtig stinkt, wird der Boss immer größer. Das Problem ist, ändern die Entscheider oft ihre Meinung und haben sie alle das gleiche Ziel?

Hiddink hat es als Experte bei der ARD eigentlich gut angesprochen. Die Talente sind da, aber man muss auch diesen Weg gehen.

Man kann nicht erwarten, dass in einer anderen Kultur (und das ist in Russland einfach anders) Entscheidungen und Motive die gleichen sind wie in Deutschland. Hier gibt es schon genug Machtkämpfe. In anderen Verbänden will ich mir das garnicht ausmalen, dazu der kulturelle Unterschied was das Standing von etablierten Spielern betrifft oder die Entscheidungsgewalt einzelner Personen.

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Tpanje 24. Juni 2016 um 11:35

Confed-Cup gibts auch noch

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HW 24. Juni 2016 um 17:29

Immerhin. Wie ist da der Modus nochmal? Nur KO-Runde oder eine aufgeblähte Gruppenphase?

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LM1895 25. Juni 2016 um 00:28

2×4, HF, Finale

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HW 25. Juni 2016 um 10:08

Total aufgeblasen also. Deutschland soll trotzdem gewinnen????

Das ist natürlich ein kleines Turnier, aber nicht vergleichbar mit der EM. Dazu ist es besser zwei als nur ein Turnier Erfahrung zu haben.
Erfahrung ist natürlich nicht alles. Aber ein komplett neues Team für ein Turnier aufzustellen, mit nur wenigen echten Belastungstest und nur wenig Entwicklungszeit. Und dann auch noch zuhause antreten mit dem zusätzlichen Druck.
Ich erwarte von den Russen eh keine Wunder, aber sie müssen schon das Ziel haben mind. eine KO-Runde zu überstehen. Davon sind sie aber weit entfernt.

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