Leipzig verbindet Individualität mit Kollektivität

Am Freitagabend demonstrierte RB Leipzig die eigene offensive Durchschlagskraft in einer Vorstellung, die zumindest für sechzig Minuten nahezu fehlerlos war. Die Gäste von Union Berlin ließen sich durch mangelnde Mittelfeldpräsenz in zu viele Duelle verstricken und verloren am Ende deutlich mit 0:3.

In der Vorwoche unterlag Leipzig noch beim FC St. Pauli, konnte aber durch den Sieg über Union den alten Abstand auf Rang vier wiederherstellen, da die Hamburger zeitgleich dem FSV Frankfurt mit 1:3 unterlagen.

2016-02-19_Leipzig-Union_GrundformationenRB-Trainer Ralf Rangnick muss weiterhin auf Stammtorhüter Fabio Coltorti verzichten. Auch der österreichische Nationalspieler Stefan Ilsanker stand für die Begegnung nicht zur Verfügung. Für ihn rückte Rani Khedira in die Stammelf, die in gewohnter 4-2-3-1-Grundordnung antrat, aber im Pressing in einer 4-2-4-Formation agierte.

Rangnicks Pendant, Sascha Lewandowski, hatte mit einigen Verletzungssorgen zu kämpfen. Toni Leistner, Fabian Schönheim und Maximilian Thiel laborieren allesamt an Oberschenkelverletzungen. Top-Torjäger Bobby Wood stand ebenso nicht zur Verfügung. Für ihn rückte Collin Quaner in die erste Elf. Michael Parensen ersetzte Leistner in der Dreierkette, wie schon im Verlauf der vorherigen Partie gegen 1860 München. Emanuel Pogatetz übernahm die zentrale Position.

Seitenverlagerungen und ballferne Raumbesetzung

Direkt nach dem Anpfiff begannen die Hausherren aus Leipzig, einige lange Diagonalbälle aus dem Sechserraum in Richtung Dominik Kaiser zu spielen, der erneut auf der rechten Seite agierte und dort auf Parensen sowie den jungen Flügelläufer Kenny Prince Redondo traf. Sofern sich für RBL keine Möglichkeit ergab, über offensive Umschaltsituationen hinter die Abwehrlinie der Berliner zu gelangen, forcierten sie Ballaktionen ihrer starken Individualisten in der Offensivreihe.

Hinzu kam das gewohnte Verschieben des nominellen Zehners sowie des ballfernen Flügelspielers. Beispielsweise rückte Emil Forsberg bis in den rechten Halbraum, wenn der Ball auf der rechten Außenbahn war. Allerdings ergaben sich für den Schweden in der Folge keine Optionen, um das Leder aus der Enge herauszuspielen. Nahezu die komplette RBL-Mannschaft hatte sich auf der rechten Seite versammelt.

Linksverteidiger Marcel Halstenberg hingegen besetzte nicht etwa den ballfernen Flügel, sondern blieb an der Seite der Innenverteidiger. Quaner lauerte meist sehr weit außen an der rechten Seite der Union-Formation auf Kontersituationen. In der Anfangsphase deckte Halstenberg den 24-Jährigen, wodurch Nebenmann Marvin Compper in der Mitte frei blieb und Kontakt zum zweiten Innenverteidiger Willi Orban hielt.

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Leipzigs Pressing und Gegenpressing

Musste Union von hinten aufbauen, waren sie de facto in Unterzahl. Denn durch das frühe Aufrücken der beiden Flügelläufer stand die Dreierreihe gegen die vordere bogenförmige Pressinglinie Leipzigs. Gegen das 4-2-4 gab es für Unions Halbverteidiger, die nicht breit auffächerten, keine diagonalen Anspielstationen nach außen. Die beiden Sechser standen zudem in Gleichzahl gegen die zentralen Mittelfeldspieler der Hausherren. So mussten die Berliner mehrfach den Ball nach vorn schlagen. Doch in Luftduellen sowie schnellen Zweikämpfen an der Abseitslinie hatten die Angreifer meist das Nachsehen.

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Problematischer war jedoch der defensive Umschaltprozess im Anschluss. Auf der Pressekonferenz nach dem Spiel erwähnte Lewandowski die Anfälligkeit seines Teams beim Verteidigen der Flügel, nannte dabei namentlich Redondo. Dabei erzeugte Benjamin Kessels Aufrücken ebenso eine Schwachstelle in der Umschaltverteidigung.

Der 28-jährige Kapitän rückte in der Anfangsphase des Spielaufbaus meist umgehend nach vorn und stand wenige Meter vor der Abseitslinie. Diese durch Kessel und Quaner praktizierte Überladung der rechten Seite hatte aber keinen positiven Effekt auf Unions Offensivspiel. Sie banden lediglich Halstenberg tief an der Abseitslinie. Es stieß jedoch keiner auf dem Flügel nach und Kessel war nur schwer anspielbar aufgrund seiner hohen Positionierung.

Hinzu kam, dass RBL wie gewohnt im Pressing und Gegenpressing viele Bälle über die Sechser eroberte. Die einrückenden Flügelstürmer verdichteten zunächst das Zentrum und anschließend stießen Khedira sowie Diego Demme aggressiv nach vorn. Lediglich Unions technisch versierter Sechser Eroll Zejnullahu konnte sich mit seinen Dribblings in einigen Szenen aus der Enge befreien.

„Mit welcher Wucht, mit welcher Synchronität wir angelaufen sind, hat mir gut gefallen.“ (Ralf Rangnick)

Anschauungsmaterial für die Anfälligkeit der Berliner Flügel lieferte der Führungstreffer durch Kaiser in der 13. Minute. In der Nähe der Mittellinie verlagerte Yussuf Poulsen aus der Mitte heraus nach rechts. Kessel war weit hinter Forsberg. Der Schwede konnte auf Christopher Trimmel zulaufen und den rechten Halbverteidiger schließlich auch überlaufen. Die anschließende Hereingabe landete bei Kaiser, der per Linksschuss abschloss.

Union gegen den Spielaufbau

Konnten die Berliner in der Defensive geordnet formieren, standen beide Flügelläufer tief in einer 5-2-3-Formation. Insgesamt ließ sich die letzte Linie aufgrund des praktizierten Mannorientierungsschemas nach hinten drücken.

Damir Kreilach schob in der Regel zwischen die beiden Union-Stürmer und verfolgte Khedira, der sich zurückfallen ließ. Allerdings deuteten Kreilachs Rückzugsbewegungen schon an, dass es den Gästen an Präsenz im Sechserraum mangelte. Sofern für die Leipziger Innenverteidiger die kurzen Anspielstationen abgedeckt waren, spielten sie lange Bälle in Richtung der vier Offensivspieler, die entweder direkt das Spielgerät behaupteten oder anschließend im Gegenpressing um den zweiten Ball kämpfen konnten. Zejnullahu und Nebenmann Felix Kroos schienen ein ums andere Mal mit dieser Art von Druck überfordert.

Nach etwa 20 Minuten zog sich der vordere Teil von Unions Pressingformation stärker zurück, um größere vertikale Kompaktheit zu generieren. Die vordere Dreierlinie positionierte sich nun um die beiden Sechser Leipzigs.

Union wirkte zwischenzeitlich weniger anfällig in der Defensive, kassierte jedoch trotzdem das 0:2. Nach einem Freistoß in der 25. Minute schaufelte Demme das Spielgerät hoch in den Sechzehner. Compper setzte sich im Kopfballduell durch und legte auf Orban ab, der vor Kreilach stand und einschieben konnte.

Bis zum Ende der ersten Halbzeit blieben die Hausherren dominant. Forsberg fiel mit einigen Dribblings sowie einem Lattentreffer per Freistoß auf. Marcel Sabitzer beeindruckte derweil mit seiner hohen Reichweite. Zog sich sein Team in der Defensive zurück, unterstützte er die Sechser, indem er sich knapp vor ihnen positionierte. Bei eigenem Ballbesitz stellte er stets gute Verbindungen zu Kaiser und Forsberg her und besetzte zudem häufig die zweite Schnittstelle in Unions Dreierkette.

Lewandowskis Reaktion

Zur Halbzeitpause nahm Lewandowski den eher unwirksamen Kreilach vom Platz. Für ihn kam Stephan Fürstner aufs Feld. Die Gäste agierten fortan mit einem klaren Dreiermittelfeld, in welchem Fürstner als zentraler Sechser fungierte und von Kroos sowie Zejnullahu flankiert wurde.

Unions Mittelfeldpräsenz wurde damit erhöht, aber Entlastungsangriffe blieben Mangelware. In der ersten Halbzeit hatten sie keinen Torschuss abgegeben und die Aussicht auf gefährliche Toraktionen stieg erst ab der 60. Minute. Zu diesem Zeitpunkt führte Leipzig allerdings bereits mit 3:0.

Poulsens Hang zu isolierten Dribblings bleibt weiterhin ein Schwachpunkt des dänischen Mittelstürmers. Auch in dieser Partie nahm er mehrmals die Dynamik aus einem Angriff, um aus einer statischen Position heraus auf den Gegenspieler zuzulaufen – und im Endeffekt meist am Verteidiger hängen zu bleiben. Doch bei aller Kritik, der 21-Jährige ist – Achtung Wortwitz – ein richtiger Bulle im Strafraum. So gesehen beim dritten Treffer von Leipzig.

In der 52. Minute spielte Khedira einen langen Diagonalball zu Kaiser, der sehr weit außen auf dem rechten Flügel stand. Redondo positionierte sich innen wartend auf ein Dribbling von Leipzigs Kapitän. Doch dieser flankte per Direktabnahme in Richtung Fünfmeterraum, wo Poulsen das Leder über die Linie drückte.

Im Anschluss erfolgten auf beiden Seiten nur noch positionsgetreue Wechsel. Davie Selke, Anthony Jung und Massimo Bruno sammelten für Leipzig noch Minuten. Bei Union durften Dennis Daube sowie Christopher Quiring noch den Rasen betreten.

Nach rund einer Stunde verlor das Spiel der Hausherren an Intensität, was Rangnick im Nachgang auch explizit anmerkte. Doch der Sieg des Tabellenführers war zu keiner Zeit in Gefahr.

„Wir haben gegen eine sehr gut funktionierende Mannschaft, die auch individuell überlegen war, verloren.“ (Sascha Lewandowski)

Fazit

Insgesamt blieb es eine ernüchternde Auswärtsfahrt für die Eisernen aus Berlin. Es stellt sich die Frage, inwieweit die vielen Eins-gegen-Eins-Situationen, in denen die Halbverteidiger verstrickt wurden, erwünscht waren. Union musste damit rechnen, dass die Hausherren den Ball in der Mitte häufiger erobern und anschließend schnell die agilen Angreifer in Szene setzen werden. Lewandowski hätte als Gegneranpassung eher auf eine Viererkette umstellen müssen, um entsprechende Zweikampfabsicherungen gegen Forsberg und Kaiser zu haben.

Ganz vorn war nicht nur der hoch positionierte Kessel in der ersten Halbzeit komplett aus dem Spiel. Auch Quaner und Sören Brandy strahlten nach der Anfangsviertelstunde keinerlei Gefahr aus. Union konnte schlichtweg zu selten die Engen im Mittelfeld verlassen und in die „interessanten Räume“, wie es Lewandowski nannte, spielen.

Die individuelle Qualität hatte die Leipziger Mannschaft bereits zu Beginn der Saison. Doch damals mangelte es ihnen noch an der richtigen Verbindung zwischen Doppelsechs und Angriffsreihe. (Analysen von mir gibt es dazu hier und hier.) Mittlerweile erfolgen Abkippbewegungen dosierter und die Abstimmung zwischen Zehner und den beiden Sechsern wurde verbessert. Rangnick selbst sagte lediglich, seine Spieler seien nun „on fire“, was zu Saisonbeginn noch nicht der Fall war. Doch es gehört natürlich mehr dazu. Ihr hohes Maß an Individualität wurde in den letzten Monaten in ein kollektivtaktisches System eingewebt, was größere Erfolgsstabilität garantiert.

Treffen sie zudem auf einen Gegner wie Union, der es nicht verstand, die Unterlegenheit seiner Einzelspieler durch taktische Anpassungen zu kaschieren, können Partien recht deutlich zugunsten des Aufstiegsfavoriten enden.

Elster 21. Februar 2016 um 12:45

Man liest selten solche klugen und treffend Analysen in der Presse über RB.

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charlesay 20. Februar 2016 um 16:33

Treffende Analyse, vielen Dank! Ich habe in der Analyse in meinem eigenen, Union-fokussierten Blog (eiserneketten.de/pages/bullen) Zejnullahu noch etwas besser gesehen, die Dynamiken des Spiels aber ähnlich beurteilt.

Die Probleme auch im Spielaufbau von Union mit zu hohen wingbacks sind nicht neu, und oft selbst für die 6er/8er ein Problem. In diesem Spiel und ohne Wood habe ich keine Ahnung, wie man dachte, eine realistische Chance auf gefährliche Offensivaktionen zu haben.

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luckyluke 20. Februar 2016 um 14:50

Interessanter Artikel danke dafür. Ich persönlich war ja immer skeptisch, inwiefern sich dermaßene individuelle Überlegenheit im Vergleich zur restlichen Liga und ein sehr konsequenter Pressin-/Gegenpressingfokus sinnvoll verbinden lassen, aber es scheint ja zu funktionieren.

Ich hätte noch eine Frage an dich CE: Wie würdest du ein Engagement Weinzierls bei RB bewerten (jetzt mal losgelöst davon, ob an den Gerüchten was dran ist)? Hat man in letzter Zeit ja öfter vernommen und bei mir persönlich tat sich da ziemlich schnell ein kleiner Widerspruch auf in den Taktikansätzen der RB Schule und denen Weinzierls (heruntergebrochen: extremer Pressing-/Gegenpressingfokus vs. eher ballbesitzorientierte Spielweise). Natürlich ist es möglich, dass Weinzierl auch noch andere Herangehensweisen beherrscht bzw. dass der RB Kader auch für Ballbesitzfußball geeignet ist, aber würde man damit nicht ein Problem aufmachen, das ziemlich hausgemacht und unnötig wäre?

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CE 20. Februar 2016 um 15:05

Weinzierl ist ja kein reiner Ballbesitztrainer. Das hat er in Augsburg schon unter Beweis gestellt. Sicherlich wäre es unklug, nun, da Leipzigs Pressingsystem endlich auf diesem Niveau effektiv greift, alles wieder über den Haufen zu werfen. In meinen Augen müssen sie bis zu einer bestimmten Feldposition Zugriff generieren und dürfen nicht zu tief nach hinten gedrückt werden. In der 1.Bundesliga wird RB Leipzig selbst bei punktueller Verstärkung des Kaders nicht direkt jede Partie dominieren. Ergo, braucht es im Gegensatz zu dieser Saison stärkere gegnerspezifische Anpassungen. Genau hier kann Weinzierl hilfreich sein. Ein weiterer Punkt: Die Kompetenzen müssten klar abgesteckt sein und Weinzierl sollte Autonomie einfordern, sofern er denn Interesse an dem Job hat. Sollte Weinzierl allerdings nicht nach Leipzig wechseln, würde ich mir wünschen, dass Rangnick weiter als Cheftrainer arbeitet. Ganz einfach weil ich sehr viel von ihm halte.

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koom 21. Februar 2016 um 14:48

Wie „individuell überlegen“ ist denn RBL? So wahnsinnig viele „fertige“ Spieler haben sie ja nicht zusammengebastelt. Wobei natürlich einige teure Talente schon dabei waren – aber Talent ist ja auch nicht alles. Wer ist denn so wirklich zu höherem berufen?

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HK 22. Februar 2016 um 09:10

Zwei Zahlen die zum zum Saisonstart gehandelt wurden (hab es nicht nachgeprüft):
– RB hat mehr in Ablösen investiert als alle 2.Ligakonkurrenten zusammen.
– Im gesamten Profibereich hat nur Bayern netto mehr investiert als RB

Wenn man diese Zahlen nimmt, dann kann man bei den Verpflichtungen gar nicht so sehr daneben liegen, als dass da nicht immens in Qualität investiert wurde.

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Koom 22. Februar 2016 um 09:33

Geld ist die eine Sache. Die Historie auch: Rangnick hat bei Hoffenheim ja auch sehr gut eingekauft, da waren auch nicht viele Flops dabei (ganz im Gegenteil). Aber gibt es auch Statistiken, die das belegen? Einfach interessehalber, gar nicht, um das zu hinterfragen. Mich würde interessieren, ob dieser Kader Bundesliganiveau hat.

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