Unentschieden im französischen Unsauberkeitsduell

Spielverlagerung wagt den Blick in die Ligue Un und analysiert ein Mittelfeldduell zweier klingender Namen; sowohl Marseille als auch Lille sind diese Saison nicht wegen PSG nur zu Chancenlosigkeit im Titelkampf verdammt, sondern haben auch Probleme, zum best of the rest zu gehören. Für Marseille wäre ein Heimsieg wichtig, um in Richtung EL-Plätze zu kommen, Lille benötigt wiederum Abstand vom Tabellenkeller.

Marseille dominiert den Gegner – und sich selbst

Die Hausherren waren von Anfang an die spielbestimmende Mannschaft. Sie hatten viel mehr vom Ball, ließen ihn sehr gut in den ersten zwei Linien zirkulieren und lockten Lille heraus, bevor sie lange Bälle nach vorne spielten. Dabei hatten sie auch grundsätzlich die passenden Muster; man hatte kaum die Möglichkeit sie effektiv vor Probleme zu stellen. Diese Sicherheit in der Ballzirkulation war die Ursache, wieso Lille nicht wirklich ins Spiel kam – jegliche Pressingversuche gingen ins Leere.

Grundformationen

Grundformationen

Diese Sicherheit war allerdings teuer erkauft. Sie lag nämlich in den Staffelungen Marseilles begründet, welche defensiv ausgelegt war. In Ballbesitz spielten die Außenverteidiger oft relativ tief – teilweise sogar auf einer Linie mit den Innenverteidigern, um sich für Kurzpässe anzubieten – und hatten die Aufgabe die gegnerischen Spieler herauszulocken und das Spiel in den ersten zwei Linien breit zu machen. Viele Mannschaften schieben die Außenverteidiger höher nach vorne, um die Flügelstürmer nach innen rücken zu lassen. Marseille ließ die Außenverteidiger bewusst so tief, weil man sich auf eine doppelte Flügelbesetzung konzentrierte und die Flügelstürmer auf einer Linie mit den Außenverteidigern sehr breit positioniert ließ. Dadurch gab es immer die Möglichkeit Lille herauszulocken, in den ersten zwei Linien mit vielen Spielern vor Lilles Formation zu zirkulieren und über Flügelüberladungen Raum zu gewinnen.

Das Problem war der natürliche Mangel an zentralen Spielern, insbesondere im letzten Drittel. Gelegentlich gab es längere Zirkulationen Marseilles – auch mit einem zurückfallenden Sechser – um Lille herum, ohne überhaupt in die Nähe des gegnerischen Strafraums zu kommen. Lille verschob und agierte in den zentralen, tiefen Zonen mannorientiert, doch hatte schlichtweg keine Angriffsmöglichkeiten. Insofern ergab sich hier eine Pattstellung, obgleich Marseille später Vorteile daruas ziehen konnte: Lille wurde müde und hatte keine Angriffsmöglichkeiten, während Marseille auch trotz dem enormen Verbindungsmangel in die Mitte gelegentlich durchbrechen und sich Chancen herausspielen konnte.

Dabei spielte ihnen Lilles Spielweise ohne Ball in die Karten.

Mannorientierungen und Unsauberkeiten

Die Gäste aus Lille pressten grundsätzlich in einem 4-1-4-1 gegen Marseilles 4-1-4-1. Eine formative Spiegelung also, welche womöglich wegen der genutzten Mannorientierungen bewusst so gewählt wurde. Lille hatte nämlich immer den Fokus darauf, die zentralen Räume durch die Mannorientierungen zu versperren. Der Sechser und die beiden Achter orientierten sich an den gegnerischen zentralen Mittelfeldspielern, häufig beteiligte sich auch der Mittelstürmer daran. Er ließ sich dann zurückfallen und ging auf Marseilles tiefsten Mittelfeldspieler – die Innenverteidiger wurden also häufig offen gelassen.

Die Grundidee war wohl, Marseille auf die Flügel zu drücken und dann mit gelockerten Mannorientierungen, ballorientiertem Verschieben und aggressivem Pressing an der Seitenlinie die Bälle zu erobern. Dazu gab es einige geplante Pressingbewegungen, wo der Mittelstürmer aus seiner tieferen zentralen Position herausrücken und das Draufgehen auslösen sollte, woraufhin die Mittelfeldspieler nachzogen. Das gelang aber nur selten. Marseille stand so breit und weit auseinander, dass es schlichtweg die Möglichkeit für diese Läufe entweder selten gab oder sie zu lange dauerten, weil die Abstände von Lilles Formation und dem Mittelstürmer zu Marseilles Sechsern so weit waren. Bis er angekommen war, hatte Marseille sich bereits dementsprechend orientiert und bespielte diese Bewegungen. Insofern waren Lilles Pressingbewegungen häufig kontraproduktiv und sorgten für Öffnungen zum Raumgewinn Marseilles, anstatt für mehr Druck.

Lille hatte darum ein Problem: Sie kamen nicht an den Ball und konnten keine Torchancen herausspielen, gleichzeitig aber war jeder Versuch diesem Ziel näherzukommen erfolglos und potenziell eine Einladung für Durchbrüche Olympiques.

Besonders gefährlich war hierbei die Rotation der zentralen Spieler Marseilles. Sie konnten die Positionen wechseln oder sich in unterschiedlichen Zonen anbieten, insbesondere in den tieferen Halbräumen. Wenn Lille herausrückte, öffneten sich Räume – besonders Halbraumverlagerungen von einem tiefen Achter auf einen zurückfallenden Achter waren problematisch, weil dieser mit gutem Sichtfeld und wenig Druck sowie Unterstützung der zwei breiten Flügelspieler neben ihm Raum gewinnen konnte.

Marseille im Aufbau, Lille (vorerst) ohne Zugriff.

Marseille im Aufbau, Lille (vorerst) ohne Zugriff.

Lille war darum am stabilsten, wenn sie passiv im 4-1-4-1 verteidigten. Sie waren hier zwar wegen der Mannorientierungen und gelegentlich fehlenden Balancebewegungen unsauber, doch grundsätzlich stabil genug, um keine Durchbrüche zu erlauben. Zwar gab es immer wieder einige 4-4-2, 4-5-1, 4-0-5-1 und 5-4-1-Staffelungen, Marseille bespielte die offenen Räume aber nie präsent oder schnell genug.

Nach circa dreißig Minuten stellte Lille jedoch um – und Marseille ebenso.

Verändertes Spiel nach einer halben Stunde

In dieser Phase hatte Lille nämlich das 4-1-4-1 und die Mannorientierungen etwas angepasst. Versuchte man zuvor aus einer tieferen Ausrichtung mit mehr Abständen zum Gegenspieler dynamisch zu attackieren, wurde dies nun anders gehandhabt. Alle fünf Mittelfeldspieler agierten enger am Mann und verfolgten von Anfang an aggressiver. Der Mittelstürmer stand wiederum höher und presste nun aus dieser höheren Grundposition mehr. Gleichzeitig versuchte er die Innenverteidiger konstanter voneinander zu isolieren und dadurch den Druck zu erhöhen.

Das Spiel veränderte sich dadurch. Lille war nun mehr am Drücker, hatte mehr Ballbesitz und konnte Marseilles Probleme aufzeigen. Diese probierten jedoch Lilles Umstellung gegen sie zu wenden. Die zentralen Mittelfeldspieler agierten nun nicht mehr konstant zu dritt in tiefen Zonen, sondern die Achter stießen immer mal wieder auf die Seiten in vorderen Zonen oder besetzten den Raum neben dem Mittelstürmer. Das funktionierte jedoch kaum, weil Lilles tiefster Sechser sich dementsprechend bewegte und nicht nur gut übergab, sondern nur akut eng an seinem Gegenspieler blieb.

Die besten Situationen hatte Marseille darum, wenn beide Achter sich im Zwischenlinienraum – bzw. grundsätzlich höher – positionierten. Nun waren die vorherigen Abstandsprobleme bei Lille wiederhergestellt, weil die Achter Lilles sich an den gegnerischen Achtern orientieren mussten und nach hinten gedrückt wurden. Nur wenn der Sechser übernahm, ging es besser, doch auch hier waren jetzt die Abstände zwischen dem einen höheren Achter und dem Mittelstürmer zu groß, um Marseilles Aufbau konstant abzudecken.

Dennoch entwickelte sich ein Spiel mit Vorteilen für Lille nach einer sehr dominanten Anfangsphase Marseilles, weil Olympique auch das sehenswerte Pressing der Anfangsphase nicht mehr so praktizierte.

Flexibilität als Genie, Unsauberkeit als Wahnsinn

Prinzipiell hatte Marseille eigentlich ähnliche Mechanismen wie Lille. Das 4-1-4-1 diente oft als Grundbasis, obgleich Cabella häufig wie ein hängender Stürmer agierte und somit auch 4-2-3-1 oder 4-4-1-1-Staffelungen kreierte. Dazu nutzten sie wie der Gegner viele Mannorientierungen und ein Mittelfeldpressing. Der Unterschied lag in den Schließ- und Kompensationbewegungen, wenn einzelne Spieler herausrückten und Räume öffneten.

Eine Pressingsituation Marseilles aus der ersten Hälfte.

Eine Pressingsituation Marseilles aus der ersten Hälfte.

Bei Lille wirkte es schlichtweg so, als gäbe es dafür keine Ordnung und darum war man hierbei zögerlich. Bei Marseille schien es, als gäbe es ebenfalls keine Ordnung, aber die – so womöglich die Teammaxime – müsse man dann eben herstellen. Darum gab es vereinzelt lange Herausrückbewegungen einzelner Spieler, wo dann die Spieler aus der hinteren Linie die offenen Räume besetzten; bei Lille machte das meistens ein Spieler aus der vorderen Linie (Sechser nach hinten, Mittelstürmer nach hinten, gelegentlich auch Flügelstürmer und Achter).

Das sorgte bei Marseille für ein etwas wildes Pressing, wo der rechte Flügelstürmer z.B. ein paar Mal diagonal nach vorne hinter den eigenen Achter schob, der nach vorne gerückt war. In einer Situation übernahm der Außenverteidiger sogar den Gegenspieler de Flügelstürmers, der Flügelstürmer war in die Mitte gerückt und der Achter nach vorne. Diese Bewegungen waren allerdings unsauber, teilweise zu wenig abgesichert und ließen in einzelnen Situationen nur drei Spieler hinten. Womöglich ist es sogar ein Relikt des Coachings Bielsas, welche noch im Unterbewusstsein einzelner Spieler schlummert?

Rhythmuswechsel fast als Siegbringer

Der veränderte Rhythmus half letztlich Lille. Marseille verlor mehr Bälle und ohne den Ballbesitz konnten sie ihre Durchbrüche der Anfangsphase kaum noch erzeugen; 67% Ballbesitz nach 25 Minuten  wurden zu 55% Ballbesitz zum Zeitpunkt der Führung Lilles in der 56. Minute. Lille setzte passenderweise nach der Führung die bisherige Spielweise fort, veränderte sich kaum und blieb darum am Drücker. Marseille reagierte zwar mit Barrada für Lucas Silva – einem offensiveren Achter, ähnlich wie Cabella zwischen Achter und Zehner anzusiedeln, aber zuerst schien es, als sei die Anpassung irrelevant. Ausgerechnet Barrada musste mit Rot gehen, doch ein letztes Aufbäumen und Hauruckfußball gegen ein tieferes Lille führte nach einem Standard noch zum Ausgleich erhalten.

Fazit

16:12 Schüsse; für ein Mittelfeldduell der Ligue Un durchaus eine ansehnliche Quote. Das Spiel lebte von den Rhythmuswechseln. Anfangs war Marseille überlegen, Stück für Stück wurde Lille besser, nur um in der letzten Minute noch die Präsenz und eigentlich verdiente Führung abzugeben. Das Spiel zeigte aber auch gewisse Probleme bei beiden Mannschaften. So ist Marseille nicht nur etwas wirr gegen den Ball, sondern auch sehr inkonstant. Mit Ball fehlen wiederum die Verbindungen in die Mitte. Lille hingegen entblößte viele offene Räume, die eine stärkere Mannschaft ausgenutzt hätte. Trotz guter Anlagen zeigte die Partie also auch, wieso sich die beiden Teams auf den jeweiligen Tabellenplätzen wiederfinden.

droitaubut 2. Februar 2016 um 07:58

Dankeschön!

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