Türchen 18: Osvaldo Ardiles

Stell dir vor du warst Schlüsselspieler einer Weltmeister-Mannschaft und wirst trotzdem unterschätzt. Dann warst du wahrscheinlich Sechser und taktisch wie strategisch sehr komplett. Nein, ausnahmsweise ist mal nicht Sergio Busquets gemeint.

Heute sprechen wir über Osvaldo „Ossie“ Ardiles. Der kleine Mittelfeldspieler spielte in den 70ern und 80ern im Zentrum der argentinischen Nationalmannschaft, mit der er 1978 als Stammspieler die Weltmeisterschaft holte. Anschließend wechselte er mit 26 Jahren vom CA Huracán zu Tottenham Hotspur, wo er bis heute als Vereinslegende gilt. Die Spielweise des kompletten Sechsers oder Achters lässt sich heute wohl leichter beschreiben und einordnen als damals.

Der Gündogan der späten Siebziger

Was soll man über Ardiles sagen, was noch nicht gesagt wurde…über Modric oder Gündogan? Ardiles war vor 40 Jahren schon der Spielertyp, der gerade vielleicht zum wichtigsten im Spitzenfußball avanciert. Er war ein sehr laufstarker, geschickter Abräumer im defensiven Mittelfeld mit großer Beweglichkeit, herausragender Technik und einem brillanten Gespür für das Spiel. Er war als Spielmacher kein Spezialist für die weiträumige Ballverteilung sondern glänzte durch Pressingresistenz und kleinräumige Aktionen – was halt ein bisschen blöd ist, wenn es massenweise Raum und kaum Pressing gibt.

Seine spielerischen Ähnlichkeiten mit den modernen kompletten Sechsern ist frappierend. Seine Torquoten beispielsweise sind mit denen von Modric beinahe identisch: Beim ersten Klub etwa 1 Tor auf 10 Spiele, in der Nationalmannschaft 1 Tor auf 8 Spiele, beim größeren, zweiten Klub etwa 1 Tor auf 12 Spiele.

Um ihn innerhalb der Schublade etwas genauer einzuordnen, würde ich jedoch am ehesten zu Gündogan neigen; vielleicht mit etwas Leon Britton dazu. Er war nicht so spektakulär explosiv und raumgreifend wie Modric, sondern war etwas stärker auf seine Position fokussiert. Er besaß auch bei aller Affinität für Drehbewegungen diese Vertikalität in seinen Dribblings, mit der Gündogan immer wieder viel Zug entwickelt. Insgesamt war er in seiner Offensivbewegung und seiner defensiven Präsenz jedoch ein bisschen weniger brachial als Gündogan. Wo ich gerade drüber nachdenke fällt mir auf, dass auch Weltfußballerin Nadine Keßler ein sehr passender Vergleich wäre.

Fokussierte Kombinationsstärke

Außergewöhnlich für die damalige Zeit und selbst zwischen seinen spielerischen Cousins noch herausstechend war Ardiles‘ Fokus auf Kombinationen. Wenn er mit Ball ins Angriffsdrittel aufrücken konnte, suchte er sehr zielgerichtet Mitspieler für schnelle Doppelpässe und Ablagen, um direkt dynamisch durchzubrechen. Auch seine Pässe in die Spitze spielte er häufig aus einer Kombination oder aus kombinationsähnlichen Strukturen heraus; er spielte sie also flüssig aus dynamischen Situationen und weniger aus statischen Freiräumen. Das wäre heute eine große Stärke, die damals nicht in gleichem Maße notwendig war.

Seine Bewegungen innerhalb der Kombinationen waren dabei häufig sehr stark auf den Durchbruch ausgerichtet, zuweilen hatte das fast etwas plumpes, was natürlich einen gewissen Widerspruch zu der grundsätzlich sehr eleganten Spielausrichtung darstellt. Das sorgte auch dafür, dass die Durchbrüche selber oftmals etwas unsauber wurden und die Chance dadurch nicht mehr ganz so klar zu Ende gespielt werden konnte. Das ist aber eine sehr geringe Kritik angesichts des zeitlichen Kontext. In einer modernen Ballbesitzmannschaft hätte Ardiles diesen Aspekt wohl harmonisieren können, doch ohne kombinativ ausgerichtete Gegenspieler und wegen der vielen Manndeckungen in dieser Zeit war diese Art von leichter Unsauberkeit fast sogar zwangsweise.

Ähnliches lässt sich über seine Dribblings sagen, die er sehr gut als Teil der Kombinationen einbringen konnte. Dabei fokussierte er sich aber recht stark auf das Ausspielen von herauskombinierten Dynamikvorteilen anstatt mit initiierenden Dribblings Startdynamiken zu schaffen. Das ist aus heutiger Sicht fast etwas merkwürdig, aber macht gegen Manndeckungen eben auch mehr Sinn als gegen passiv raumdeckende Systeme.

Harmonische Präsenz

Während seine Offensivaktionen durchaus eine gewisse Brachialität mit sich brachten, war er im Mittelfeld und der Defensive ein überaus harmonischer, balancierter Spieler, der sich hervorragend ins Mannschaftsgefüge integrierte. Seine ballfordernden Bewegungen waren schlau und geduldig, seine Positionsfindung sehr sauber und gut auf die Mitspieler abgestimmt. Er wechselte sehr stark zwischen absicherndem und aggressivem Verhalten gegen den Ball und rückte bei Ballbesitz in den richtigen Momenten auf. Auch seine Beteiligung an der Ballzirkulation war strategisch wie technisch sehr sauber; noch so etwas, was heutzutage wertvoller wäre.

So war er auch in seiner Einbindung vielseitig und flexibel. Er konnte die Sechser- oder Achterposition unterschiedlich offensiv interpretieren und sich dabei an sein Umfeld anpassen. So spielte er bei Tottenham häufig mit Glen Hoddle zusammen, bei Argentinien üblicherweise mit Américo Gallego. In beiden Konstellationen war er der mobilere Teil der Doppelsechs. Neben Edeltechniker Hoddle war er jedoch der klar defensiver ausgerichtete Spieler, neben dem robusten Gallego der wesentlich offensivere.

Pressingausflüge

Spannend ist auch, dass er – wie viele sehr spielintelligente – intuitiv schon punktuell moderne taktische Aspekte in seinem Spiel hatte. Wenn die Stürmer sich passend formierten, rückte er teilweise sehr weit heraus, um in den Lücken hinter dieser Linie ins Pressing zu gehen. So eroberte er zuweilen als defensiver Mittelfeldspieler Bälle im Angriffsdrittel. Auch Gegenpressing war bei ihm zumindest zu erahnen. Durch seine balancierte Spielweise sorgte er für stabile Strukturen nach Ballverlusten und konnte daher punktuell auch direkt in die Ballrückeroberung gehen oder passiv seine Mitspieler dazu anleiten.

Generell kann man herausheben, dass er sehr viel Verantwortung im Spiel übernahm; also nicht nur innerhalb seiner Zone, sondern auch für das Spiel über seinen Horizont hinaus. Er positionierte sich ballfern sehr aufmerksam, um hier und da die Kompaktheit zu erhöhen, und bewegte sich mit dem Ball sehr geschickt in der Gesamtdynamik der Angriffe, sodass er zuweilen bestimmte Bewegungen der Mitspieler auslösen konnte.

Guter Fußball

Eigentlich ganz interessant, dass wir auf Spielverlagerung weder zu Gündogan, noch zu Modric oder Thiago eine Spieleranalyse haben. Auf den ersten Blick bieten sie sich an für eine Lobpreisung ihres Genies. Wenn man aber erst einmal festgestellt hat, wie komplett und wertvoll diese Spielertypen sind, und man keine In-depth-Analyse mit tausend individuellen Kleinigkeiten durchführen will, wird es schwierig, mehr über diese Art von Spieler zu sagen. Sie sind ganz einfach extrem gute Fußballer. Das sieht auch jeder, der genau hinsieht; es sind ja durchaus Fußballer, die im Grunde unangefochten gut sind. Das Problem ist eigentlich nur, all ihre Qualität angemessen wertzuschätzen.

So bleibt auch bezüglich Ardiles nur zu sagen: Unheimlich geiler Kicker. Schade, dass er im europäischen Vereinsfußball nicht noch etwas mehr gerissen hat. Und ein bisschen auch schade, dass er 40 Jahre zu früh geboren wurde, um den Fußball zu spielen, zu dem er berufen gewesen wäre.

Schorsch 18. Dezember 2015 um 17:46

Ardiles ist sicherlich eine gute Wahl auf dieser Position; ich kann da zustimmen und will auch nicht meckern.

Es ist nur so, dass ich Ardiles bei der WM 78 in Argentinien mit einer harten, durchaus mitunter unfairen Spielweise in Erinnerung habe. Irgendein Kommentator (ich weiß nicht mehr wer) hatte ihn damals deswegen auch als ‚Giftzwerg‘ bezeichnet. Und so ganz Unrecht hatte er in meinen Augen nicht.

Jenseits der Bewertung einzelner Spieler und Teams bei dieser WM habe ich immer ein mehr als ungutes Gefühl, wenn ich an diese WM zurückdenke. Schon damals war ich persönlich für einen Boykott. Neben den unsäglichen Zuständen im Lande kamen dann auch noch die Schiebereien hinzu. Seit der WM 1934 hatte es kein Turnier gegeben, das von den Machthabern derart beeinflusst worden ist. Hinzu kommen die absolut inakzeptablen Schikanen (auch durch fanatisierte Zuschauer) der niederländischen Nationalelf direkt vor dem Finale. Eine WM der Schande, und der WM-Titel Argentiniens ist mit einem sehr großen Fragezeichen zu versehen. Auch wenn Herr Menotti es vor allem im nachhinein sehr gut verstand, insbesondere sich selbst im positiven Licht erscheinen zu lassen.

Das ändert nichts an der fußballerischen Qualität eines Osvaldo Ardiles.

Antworten

HK 18. Dezember 2015 um 19:02

Du sagst es: Das ändert nichts an der fußballerischen Qualität eines Osvaldo Ardiles.
Ich persönlich finde es immer etwas schade für ihn, dass sein größter Erfolg durch Dinge überschattet wurde für die er selber sehr wahrscheinlich am wenigsten konnte.

Antworten

CE 18. Dezember 2015 um 21:43

Die Aufzeichnungen der damaligen Spiele hinterlassen auch einen merkwürdigen Eindruck. Die Atmosphäre unterschied sich wohl stark von jener bei den vorherigen und nachfolgenden Turnieren.

Antworten

Schorsch 18. Dezember 2015 um 23:45

Das ist sehr diplomatisch ausgedrückt. Ernst Happel und einige Spieler des niederländischen Teams haben einmal geschildert, welche Angst sie ausgestanden hatten, als ihr Bus auf der Fahrt zum Finale beworfen wurde. Dorfbewohner hatten zudem den Bus angehalten und versucht ihn umzukippen. Die Polizieeskorte schaute einfach nur zu. Der Bus war im Stau stecken geblieben, wobei die Ansetzung der Abfahrtszeit vom Hotel (wo man auch so einiges erlebt hatte) genauso dubios verlaufen ist wie die Fahrt zum Stadion. Man hat sich absichtlich verfahren. Die Niederländer haben mit Ach und Krach das Stadion rechtzeitig erreicht; an ein ordnungsgemäßes Warmmachen war nicht mehr zu denken. Auch die argentischen Spieler haben noch einen draufgesetzt. René van der Kerkhoff hatte das ganze Turnier über mit einem Gips am Arm gespielt, ohne dass irgendein gegnerischer Spieler oder ein Referee dies beanstandet hätte. Nur die argentinischen Spieler, vorweg Spielführer Passarella, bedrängten den Finalschiedsrichter kurz vor dem Anpfiff so lange, bis van de Kerkhoff sich seinen Gipsarm mit Stoff umwickeln musste. Die FIFA hat zu all den Dingen, die dort passiert sind, bis vor Kurzem nie einen Ton gesagt.

Wer sich über diese WM, die man mit Fug und Recht als Skandal-WM bezeichnen kann (nein, muss), informieren möchte, dem sei ein wie ich finde gut zusammenfassender Artikel in ’11Freunde‘ empfohlen, der vor einigen Jahren dort erschienen ist (hieß glaube ich ‚Das perverse Turnier‘).

Antworten

karl-ton 19. Dezember 2015 um 01:39

The Ball is Round: A Global History of Football von David Goldblatt hat auch ein recht gutes Kapitel zu der WM.

Antworten

Peda 18. Dezember 2015 um 11:18

Ich möchte diesen jungfräulichen Kommentarbereich nutzen um eine Lanze für die Autoren zu brechen:

Ihr leistet mit euren Analysen, Portraits und allen anderen möglichen Textsorten außerordentliche Arbeit. Als regelmäßiger Leser ist man da natürlich bemüht Feedback zu geben, um euch in eurer Arbeit zu bestätigen. Wenn sich aus dem Thema selbst keine weiterführenden Fragen ergeben, die sich als Trigger für eine angeregte Diskussion eignen, und man auch nicht nur in einem Einzeiler abfeiern möchte, versucht man konstruktiv Kritik zu üben. Bei derart gehaltvollen Beiträgen verkommt die Kritik sehr schnell zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Das wiederum kann einem natürlich als Autor sauer aufstoßen, weil als Destillat oft nicht mehr als die Bemängelung eines Schreibfehlers übrigbleibt.
Aber versucht gerade diese Beiträge einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten: wenn es bei derart komplexen Sachverhalten nichts anderes zu bemängeln gibt als die Verwendung einer einzigen uneindeutigen Formulierung, wie stark muss dann dieser Text bitte sein? Ich ertappe mich selbst dabei, dass ich mich über Tippfehler in euren Beiträgen ungewöhnlich stark ärgere. Das liegt aber einfach daran, dass außerordentliche Texte wie einige der Portraits zu sonst völlig unbeschriebenen Blättern oder bestimmte taktiktheoretische Artikel – zumindest für mich – Allgemeingültigkeit besitzen. Und in seiner Ausgabe der Encyclopædia Britannica würde man auch keine Druckfehler finden wollen.

Deshalb an dieser Stelle nochmal meine tiefsten Respekt für die Arbeit, die ihr hier leistet. Ihr bereichert damit mein Leben.

Danke!

Antworten

Peda 18. Dezember 2015 um 11:27

PS: zweiter Absatz unter Fokussierte Kombinationsstärke:

„etwas Plumpes“ schreibt man groß, der Genitiv „des zeitlichen Kontexts“ verlangt nach einem s oder es. 😉

Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Peda Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*