Kurz ausgeführt: Milan – Lazio 3:0

Für 15 Minuten gab es in Mailand ein enorm offenes, temporeiches und fluides Topspiel zu sehen. Dann allerdings machte ein Platzverweis dem Spektakel ein Ende. Mit 11 gegen 10 wurden die Strukturen klarer, verlor das Spiel sein wogendes Momentum und auch etwas von seinem Reiz.

Zuletzt hatte Lazio auf europäischem Parkett eine starke Leistung zuhause gegen Borussia Mönchengladbach geboten und orientierte sich von der Methodik her auch im Topspiel gegen das wiedererstarkte Milan an dieser Spielweise.

Beispielhafte Szene für die Herausrückbewegungen Lazios gegen Gladbach: Lazio mit klarer Überzahl gegen das zugestellte Zentrum der Borussia, als Stranzl den Querpass auf den scheinbar unbedrängten Dominguez spielt. Doch Candreva ist bereits vorgerückt und kann den Spanier aus dessen Rücken pressen, während Wendt im Deckungsschatten zugestellt bleibt. Um ein solideres 4-4-2 zu erreichen, können González und Ledesma, der Cigerci übernehmen würde, rechtsseitig herausschieben.

Dies war vor allem deshalb möglich, weil das etwas asymmetrische 4-3-3/4-3-1-2 der Norditaliener eine gewisse Ähnlichkeit zu jener 4-3-3-Formation aufwies, welche Favres Fohlen genutzt hatten. Auch diesmal sollten die geschickte Defensivarbeit von Mittelstürmer Floccari, die flexiblen Mannorientierungen der zentralen Mittelfeldspieler sowie situative Herausrückbewegungen mit nachziehendem Deckungsschatten als Erfolgsgaranten fungieren, so der Plan.

Milan gegen Lazios Defensive

milan-lazio

Grundformationen zu Spielbeginn mit 11 gegen 11

Allerdings gelang es den Hausherren mit einigen sinnvollen Anpassungen, das Defensivkonzept der Laziali aufzureißen, worauf diese sich dann wiederum teilweise einstellen konnten, was eine interessante Begegnung in der Anfangsphase der Partie bot. Milan spielte einige riskante Bälle und hatte ebenfalls gewisse riskante Bewegungen im Repertoire, um Lazios Methoden zu knacken – was zu einigen chaotischen Anordnungen, Ballverlusten sowie Gegenzug-Möglichkeiten für die Gäste führte und damit insgesamt eben einen fahrigen, intensiven, aber durch hohes Tempo auch unterhaltsamen Charakter in die Partie brachte, der auch die Spieler und deren Reaktionsvermögen besonders forderte.

Im Vergleich mit ihren Gladbacher Pendants postierten sich die Außenverteidiger Milans deutlich geschickter und konnten mit verschiedenen Freilaufbewegungen besser ins Spiel einbezogen werden. Auch gegen Floccari trat Milan variabler auf – so hatte Ambrosini einen wesentlich höheren Aktionsradius als Marx, während die Innenverteidiger auch mal riskant diagonal mit aufrückten und zusätzlich viele zurückfallende Bewegungen Montolivos die Spielweise des Lazio-Stürmers zerbrachen. Montolivos Absichern erlaubte es Ambrosini dann auch, mit der Kugel nach vorne aufzurücken, wenn er diese nach Ballstafetten in den hinteren Reihen im freien Halbraum erhalten hatte. Einerseits war es auf diese Weise möglich, mit Tempo auf das gegnerische Mittelfeld zu zudribbeln, andererseits, dort deren Absicherungsspieler im numerischen Sinne auszugleichen.

Duell der Anpassungen und Reaktionen: Milan gewinnt eine Seite, Lazio die andere

Dadurch konnte Lazio die halbäußeren Zehnerräume nicht mehr so konsequent verschließen, wie es ihnen noch gegen Gladbach gelungen war, was insbesondere Kevin-Prince Boateng auszunutzen wusste. Als nomineller rechter Offensivspieler in einem 4-3-3 rückt er mittlerweile immer wieder ins Zentrum ein und wandelt die Formation als Zehner/Außenspieler-Hybrid damit in eine asymmetrische Raute. In den Halbräumen fand der ehemalige Bundesliga-Profi somit ein ums andere Mal Freiheiten vor und initiierte von dort die spielerische Dominanz des rechten Mailänder Flügels.

milan-lazio-kreisel

Lazios Defensivkreisel: Jeder der drei Spieler hat einen ungefähren festen Grundraum (rot), der in seiner Verantwortung bleibt. Bei den in gepunkteten Pfeilen dargestellten Mailänder Kreiselbewegungen (di Sciglio sorgt für Breite, Montolivo will in Freiräume abkippen, El Shaarawy rückt zentral zum Kombinationsspiel ein), übernehmen die Lazio-Spieler jeweils den Akteur, der ihrem Grundraum am nächsten ist (grüne, gestrichelte Pfeile).

Auf der anderen Seite, die im normalen Grundsystem der Rot-Schwarzen eigentlich die Stärkere und Dominante ist, behielten aber die Gäste aus der Hauptstadt die Oberhand und konnten Milan neutralisieren. Auf deren Versuch, mit enormer Bewegung die Mannorientierung der Biancocelesti aufzureißen, antwortete Lazio mit einer Gegen-Reaktion und zog auf der halbrechten Abwehrseite einen defensiven Dreieckskreisel zwischen Candreva, Alvaro González und Pereirinha auf, der bei den rotierenden Bewegungen der dortigen Milan-Spieler übernehmende  Mannorientierungen auf diese spielte. Wenn di Sciglio, Montolivo und El Sharawy ihre Grundräume kreiselnd wechselten, behielten die Lazio-Spieler ihre Verantwortungen auf ihren jeweiligen Bereich, übernahmen aber den dorthin geswitchten gegnerischen Akteur.

Der Platzverweis und die Folgen

Es schien alles angerichtet für ein intensives und schnelles Match auf hohem taktischem Niveau, in dem Lazio stark verteidigte und mit einzelnen Nadelstichen gut nach vorne kam, aber Milan dennoch seine Chancen hatte. Nach einem riskanten Ballverlust im Bereich der Mittellinie entstand dann eine gute Szene für Milan, die Candreva mit einem Foulspiel vereitelte, wofür es eine nicht unumstrittene Rote Karte wegen Notbremse gab.

Daher waren die Gäste gezwungen, auf ein „normaleres“ 4-4-1, vielerorts auch als Standardformation für Mannschaften in Unterzahl bezeichnet, umzustellen und konnten weniger anpassungsfähig verteidigen. Aus den schematischen Freiräumen neben Floccari konnte Milan in Überzahl nun große Dominanz aufbauen, was zu einem recht einseitigen und vorhersehbaren Spielverlauf führte – Milan griff konstant an, Lazio verteidigte konstant tief.

Kurz vor der Pause war es dann wenig überraschend ein Doppelschlag über ihre halbrechte Seite, der die Weichen auf Sieg stellte. Gegen das starke und temporeiche Vertikalspiel der Hausherren sowie deren Balldominanz hatte sich Lazio mit der Zeit zu weit hineindrängen lassen und seine defensive Staffelung verloren – dass die Formation zu flach wurde, rächte sich entsprechend. Wenn dies passiert, wird man generell anfällig gegen das Bespielen von Schnittstellen, gegen Ablagen sowie prallen gelassene Bälle und gegen Gegenpressing, weil das vertikale Befreien erschwert wird und der Gegner weniger Raum abdecken muss. Gerade beim wichtigen 1:0 kombinierten sich alle drei Aspekte zum Gegentor.

Dabei war die erste Reaktion der Hauptstädter auf die Unterzahl durchaus ordentlich gewesen, weil sie dem Druck Milans für eine längere Phase standhalten konnten und das Spiel durchaus zu entschleunigen wussten – was allerdings auch ein wenig an den klareren Gegebenheiten lag. Durch den in eine Dreierkette zurückfallenden Sechser Ledesma sorgte Lazio für Ballsicherheit im Aufbau, um in der Unterzahl nichts zu riskieren. Bei gegnerischem Druckaufbau wurde dann früh der lange Ball gesucht (jedes fünfte Zuspiel), doch das Gegenpressing funktionierte nicht nachhaltig genug – weshalb Milan der Sieg nicht mehr zu nehmen war.

Fazit und Ausblick

In der kommenden Woche trifft Lazio im Achtelfinale der Europa League mit dem VfB Stuttgart auf den letzten übrig gebliebenen Bundesliga-Vertreter – in diesem Spiel bestätigte sich wieder einmal, dass die Schwaben es mit einem defensivstarken Gegner zu tun bekommen werden, der in den Bereichen Endverteidigung und Anpassungsfähigkeit besonders überzeugen kann. Tendenziell ist den Laziali aber vor allem mit einem dynamischen und in den tiefen Aufbauräumen sehr freilaufenden Spiel, das gelegentlich insgesamt auch etwas wild aussehen darf, sowie individuellem Durchsetzungsvermögen auf Außen und nachrückender Kraft aus dem Zentrum beizukommen – was dem VfB durchaus gelegen kommen dürfte.

Hinweis für alle Fans der Rossonieri: Ein allgemeiner Artikel zu Milan, der sowohl auf ihre enormen Probleme zu Saisonbeginn als auch ihre deutlichen Fortschritte ab Dezember, die zu einer ansehnlichen Aufholjagd in der Liga geführt haben, eingeht, ist bereits in Arbeit.

MilanFan 17. März 2013 um 20:51

sehr schöner artikel, wann kommt den die mannschaftsanalyse zu milan, warte schon gespannt darauf.

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Lobanowskyj 4. März 2013 um 09:47

Hab das Spiel zwar nicht gesehen, aber nach dieser Analyse muss ich`s mir glaub ich noch mal reinziehen, speziell bis zum Platzverweis. Vielen Dank!
Zu dem „Defensivkreisel“ Lazios: Wenn ein Milan-Spieler den Bereich eines Römers verlassen hat (zB. di Sciglio läuft in den Bereich von Pereirinha, aber El Shaarawy bleibt auch dort), ist der Römer dann mannorientiert gefolgt, um eine lokale Überzahl zu vermeiden? Und vor allem interessant: wenn ja, wie ist Milan damit umgegangen?
Täuscht der Eindruck, oder ist Milan sehr gut darin gewesen, den Raum zwischen Abwehr und Sechsern auszunutzen? Besonders Boateng scheint ja auch gut darin zu sein, von da aus mit seiner schieren Präsenz den Gegner in die Rückwärtsbewegung und ein flacheres Positionsspiel zu „drücken“.
Und meine letzte Frage: Wie hat Milan die offensiven Drei ins Spiel gebracht: Über die AVs, über Ambrosinis lange Bälle oder per Kurzpassspiel?

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Lobanowskyj 4. März 2013 um 09:50

Freue mich übrigens schon sehr auf das special zu Milan, die mometan in Sachen Taktik (überraschenderweise für einen Nichtkenner der Serie A) wohl der heißeste Scheiß sind, den man in der Champions League so beobachten kann.
Vielen Dank dafür schon mal im Vorraus!

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TR 4. März 2013 um 20:03

Wenn die Gegner überladen wollten, wurde im Normalfall die mannorientierte Verfolgung durchgezogen. Ein paar Probleme hatte Milan damit schon, wobei sie versuchten, auf dieser Seite die Spieler mit längeren Bällen in Freiräume zu schicken. Boatengs Einfluss war ja besonders auf der anderen Seite erkennbar und dort konnte er sich tatsächlich Freiräume erarbeiten und den Gegner nach hinten drücken, außerdem als Verbindungsspieler agieren.

Tja, man glaubt es gar nicht, dass Milan derzeit so abräumt. Vielleicht spielen sie derzeit eben genau so über ihrem eigentlichen Limit, wie sie zu Saisonbeginn ergebnistechnisch darunter blieben. Damals war die aktuelle Situation alles andere als vorauszusehen. Aber kleine Probleme machten eben viel aus und diesmal sind es kleinere Verbesserungen, die größeren Effekt haben, könnte man sagen.

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Lobanowskyj 5. März 2013 um 15:09

Danke nochmal.

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TW 3. März 2013 um 20:59

Sehr schöner Artikel. Die Prinzipskizzen zu bestimmten Spielsituationen ziehen sich durch Deine Analysen und sind immer wieder überragend!

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