Adventskalender Türchen 23: Marco Reus

Der Kagawa-Ersatz, der Spieler der Saison, der Königstransfer, der die höchste BVB-Ablöse seit den „fetten Jahren“ verschlang, die Hoffnung der Nationalmannschaft und überhaupt: ein geiler Fußballer. Das ist Marco Reus, der in den vergangenen zwei Jahren einen kometenhaften Aufstieg zum internationalen Topstar erlebte.

Doch auch, wenn er seinen BVB-Vorgänger Kagawa vergessen machte, so sollten die Dortmunder im Gedächtnis behalten, was den wuseligen Japaner von seinem Nachfolger unterscheidet. Dass Reus kein eins-zu-eins Ersatz war, sollte allen klar sein. Die Defensivprobleme und die fehlende Durchschlagskraft in der Liga-Hinrunde der Borussia werden dennoch nie mit dieser personellen Veränderung in Verbindung gebracht. Der Zusammenhang dürfte aber stärker sein, als viele für möglich halten.

Das schlampige Genie

Was den Hype um Marco Reus ausmacht sind seine oft genial erzielten Tore, seine spektakulären Dribblings und seine präzisen finalen Pässe durch die gegnerische Viererkette. Diese außergewöhnlichen Qualitäten zeichnen ihn aus und ergänzen das taktisch so herausragende Spiel der Klopp-Elf um eine wichtige individuelle Komponente. Seine Schusstechnik und seine Geschwindigkeit können scheinbar ungefährliche Situationen zum explodieren bringen und brachten den Borussias und der DFB-Elf einige Siege in engeren Spielen.

Die außergewöhnlichste Stärke von ihm ist dabei wohl seine individualtaktische Intelligenz. Favre sagte über ihn, er „versteht alles“ und tatsächlich versteht es kaum ein Spieler im Weltfußball dermaßen gut, gegnerische Spieler mit geschickten Bewegungen und kleinen Ballberührungen aus der Position und der Balance zu bringen. In höchstem Tempo streut Reus winzige Details in seine Ballführung ein, die ihn in perfekte Stellungen zu seinen Gegnern bringen, um dann die entscheidende Beschleunigung, den überraschenden Schuss oder den durchschlagenden Pass zu setzen. Er weiß genau, wie er vorgehen muss, um nicht verteidigt werden zu können.

Plastisch sieht man das zum Beispiel an seinen simpel wirkenden „Durchsteck-Dribblings“, bei denen er Gegner beinahe banal düpiert, indem er den Ball einfach direkt vor ihnen knapp an ihrem Bein vorbeilegt und sie überläuft. Solche Dinge sind keine Auswüchse technischer Brillanz, aber es ist kein Zufall, dass andere Spieler solche einfachen und doch unfassbar effektiven Aktionen nicht bieten können. Das Timing, die Antizipation der gegnerischen Bewegung und die Kontrolle der eigenen Geschwindigkeit müssen in höchster Präzision zusammenkommen, damit solche Dinge zuverlässig funktionieren können. Reus kann das.

Diese geniale Qualität von ihm täuscht jedoch darüber hinweg, dass seine Ballbehandlung und besonders die Ballannahme sehr unkonstant ist. Zwar gibt es Momente, in denen er Pässe hervorragend abtötet und im Dribbling mit anspruchsvollen Ballbewegungen aufwartet, aber ebenso verspringen ihm immer wieder leichte Bälle und die Sauberkeit in den Aktionen geht verloren.

Solche technischen Fehler werden im Rausch seines Spektakels gerne vergessen, sind aber durchaus ein wichtiger Punkt, der den Dortmundern Schwierigkeiten macht. Sie führen dazu, dass Reus kein besonders guter Zwischenraumspieler ist (außer, er kann im Direktspiel kombinieren). Wenn er nicht sofortigen Zug nach vorne entwickeln kann, sondern den Ball in engen Räumen behaupten und führen muss, bekommt er Probleme. Er ist auch nicht so gut darin, in tiefere Räume zu fallen, um das Aufbauspiel zu unterstützen, sondern ist stärker auf das Angriffsdrittel festgelegt. So gesehen ist er offensiv das genaue Gegenteil von Kagawa, der mit einer überragenden Sauberkeit und Präzision glänzte, dafür aber im Abschluss und der generellen Durchschlagskraft stets Defizite hatte.

Der Favre in den Knochen

Diese fehlende Qualität schlägt sich in seiner Spielweise und besonders seiner Entscheidungsfindung nieder. So neigt er dazu, sich zu sehr auf das schnelle Vorwärtsspiel zu fokussieren und ihm fehlt die Geduld zwischen den Linien. Immer und immer wieder versucht er seine brillanten Fähigkeiten zum Spiel in den Strafraum durchzudrücken, ohne dabei auf den richtigen Moment zu warten und gegebene Räume konsequent zu nutzen.

Besonders in den letzten Wochen hatte er Phasen, in denen er einfach zu viele Schnittstellenpässe durch die eng stehende Kette des Gegners versuchte, die deshalb vorhersehbar wurden und reihenweise hängen blieben. Dabei übersieht er dann oft simple Passoptionen auf Nebenmänner, spielt mit einer Art Tunnelblick. Dass er die schwächste Passquote (76%) von allen Spielern der Dortmunder Dreierreihe (Perisic 78%, Großkreutz 80%, Götze 82%, Blaszczykowski 84%) hat, ist kein Zufall.

Neben seinem Fähigkeitsprofil und seinen ästhetischen Präferenzen ist es sicher auch Lucien Favre, der an dieser Spielweise einen gewissen Anteil hat. Das extrem schnelle, auf Direktspiel und schnörkellose Vertikalkombinationen ausgelegte Spiel seiner Fohlen prägt Reus noch immer, weshalb er oft wie automatisch zur Direktablage greift oder einen Steilpass probiert. Im Rhythmus seiner neuen Mannschaft ist er noch nicht endgültig drin.

Seine alte Mannschaft versuchte, den Raum zwischen den Linien so schnell wie möglich zu überspielen, um dem gegnerischen Zugriff zu entgehen. Die schwarzgelben Borussen hingegen erschließen erst Räume, um von dort die finalen Aktionen zu setzen, anstatt so schnell zu spielen, dass sie keinen Raum für die Aktionen brauchen. Falls Reus die zweitere Dynamik noch besser verinnerlichen kann, sollte das Dortmunder Spiel noch ein Mal eine Stufe zulegen können. Gerade das Zusammenspiel von Reus und Götze glänzt noch lang nicht so oft, wie es könnte und sollte.

Ein Falke im Pressing

Ein weiterer Unterschied zu Kagawa ist das Defensivverhalten von Reus, welches einem gänzlich anderen Stil folgt. Während der Japaner seine enorme Beweglichkeit dazu nutzte, mit höchst intelligenten Anlaufwegen mehrere Passwege gleichzeitig zu blockieren und den Gegner somit aus der Distanz verunsicherte, indem er wie eine Fliege ungreifbar überall zu sein schien, ist Reus auch hier wesentlich linearer.

Er kann nicht im gleichen Maße Passwege abdecken wie Kagawa, sondern ist wiederum ein Spieler, der im Individualtaktischen seine große Stärke hat und in direkten Zweikämpfen herausragend ist. So hat er ein absolut außergewöhnlich gutes Timing und messerscharfe Präzision beim Attackieren der Gegenspieler. Wie ein Falke stürzt er sich aus hoher Distanz auf sein Opfer und pickt sich den Ball. Er kollidiert nicht wahllos mit dem Gegner, um sein Spiel nur zu stören, sondern er trennt ihn sehr oft unheimlich sauber vom Spielgerät und kann dadurch sofort umschalten.

Somit hatte der BVB aber Probleme, ihn in das Pressingkonzept zu integrieren. Zu Saisonbeginn sollte Reus seine Sturzflüge auf die Gegner aus dem Zentrum hinter Lewandowski heraus machen, was aber nicht gut gelang. Zu oft konnten sich die gegnerischen Innenverteidiger über die offenenen Passwege und Räume befreien. Daher spielt er nun vornehmlich auf dem Flügel, wo er klarer zugeordnet ist und der Gegner nicht in so viele Richtungen ausweichen kann. Die Kagawa-Rolle hat Götze in ähnlicher Form übernommen.

Zwischen individueller Effizienz und taktischer Überlegenheit

Sowohl offensiv wie defensiv liegen Marco Reus‘ Qualitäten also vor allem in den Gegenspieler-bezogenen Aspekten, im individuellen Verhalten. Vorgänger Kagawa war wie kaum jemand anders ein Kollektivspieler. Sein Nadelspiel durch die Enge diente nur dem Raumschaffen für Mitspieler, sein schwarmartiges Pressing sorgte dafür, dass seine umliegenden Spieler besser in Zweikämpfe kamen. Reus profitiert hauptsächlich selber von seinen Stärken; wenn er einen brillanten Schuss rausfeuert, dann ist es sein eigenes Tor.

Letzteres ist für sich genommen kein Problem, es ist aber so, dass Dortmund dadurch in dieser Saison seltener kollektivtaktisch derartig überragend ist, wie sie es in den letzten beiden Jahren oft waren. Zwar konnte der BVB nicht zuletzt durch Reus‘ geniale Einzelaktionen einige Spiele trotz ausgeglichenerer Kräftebalance gewinnen, aber das kollektive Erspielen der Torchancen ist generell eine stabilere Größe als die individuelle Verwertung. Daher hat der BVB einige hervorragende Ergebnisse, aber auch viele Enttäuschungen zwischen diesen. Die Ergebnisse der Hinrunde sind wechselhafter.

Somit ist Marco Reus beim BVB auch eine Philosophie-Frage. Wie viel individuelle Qualität können wir einbauen, ohne taktisch abzubauen? Ab wann lohnt es sich, die Klasse der Einzelspieler über die Klasse der Mannschaft zu stellen? Und wie vollständig bekommt man ein individuell fixiertes Genie in eine selbstlose, raumorientierte Mannschaft integriert?

Karl Moor 28. Januar 2014 um 01:50

Nachdem der sehr lesenswerte Artikel nun schon über ein Jahr alt ist, würde mich interessieren, wie ihr seine Entwicklung seitdem seht.
Meiner Ansicht nach hat sich sein Pressing in dieser Zeit verbessert, aber er spielt teilweise immer noch zu schnell nach vorn. Seht ihr das auch so?

Antworten

laterookie58 23. Dezember 2012 um 20:52

@ MR sowie alle obigen Kommentatoren: Über Reus noch etwas Lesenswertes zu schreiben, ist eine echte Herausforderung. Vieles wurde bereits gesagt und wohl aus allen Winkeln betrachtet. Der Spieler nahezu vollständig erfasst und bewertet…

Umso gelungener sehe ich obiges Portrait im Zusammenspiel der Wertigkeiten von Kagawa– wie ich es so gerne nenne: großes „Kopf- Kino“. Je treffender Umschreibungen/ Analysen für mich sind, um so lebendiger wird das jeweilige Bild in meinem Kopf.
Herzlichen Dank für großartige Schreibe und Deine Zeit!
Zu den Weihnachts- und Jahres- Abschlußgrüßen erlaube ich mir, mich an den letzten Absatz von meinem Vorredner Majo anzuhängen: zutreffend in vollem Umfang!!!
Vielen herzlichen Dank für Bereicherung und Neues zu Lernen.
laterookie58

Antworten

Majo 23. Dezember 2012 um 18:11

Perfekt analysiert! Nur in der Conclusio gehen meine Gedanken in eine andere Richtung. Kagawa hat durch seine individuellen Fähigkeiten einige Mitspieler entlastet, ihnen Räume und Aktionen verschafft. Was so positiv klingt, bedeutet aber auch Abhängigkeit. Durch seinen Abgang und Reus‘ Qualitäten, sowie auch Schwächen, mussten diese Mitspieler selber noch mal nachlegen, sich und ihr Spiel entwickeln, mehr Aufgaben lösen. Dadurch gabs Dellen, aber auch mannschaftstaktische Entwicklung.
Für 2013 kann ich mir vorstellen, dass der BvB die zweite 6 mehr und mehr aufgibt, dafür in der Offensive noch fluider wird, um Reus eine gewisse Freirolle über die Flügel zu ermöglichen, aber bei Ballverlust trotzdem genügend Spieler fürs Gegenpressing in Ballnähe zu haben.

Abschliessend meine besten XMas Wünsche an Spielverlagerung und die Leser. Ihr habt meinen Horizont in diesem Jahr erweitert und vielen Gedanken, die ich schon hatte, aber mangels taktischer Schulung nie formulieren konnte, einen fruchtbaren Boden bereitet. Danke!

Antworten

Mutt 23. Dezember 2012 um 10:44

Vielen Dank für die Analyse. Kann ich alles so unterschreiben. Nur fehlt noch ein Aspekt: Seine Freistöße. Der letzte überragende Freistoßschütze in Dortmund war aus meiner Sicht Alex frei. Sahin hatte auch schöne Szenen. Reus hat die Standardsituationen unheimlich aufgewertet. Er kann mit erstaunlicher Reproduzierbarkeit den Ball zwischen Verteidiger und Torwart schnibbeln – die Knipserzone, wo eine flüchtige Berührung für ein Tor reicht. Oft ist der Freistoß auch so getreten, dass er reintrudeln kann. Der Torhüter kann dann oft nur (zu) spät reagieren.
Früher hat man als BVB- Fan abgewunken, wenn Standards kamen – jetzt ist es fast immer brandgefährlich.

Antworten

blub 23. Dezember 2012 um 14:39

Sahin war ein Gott am ruhenden Ball. Alle Tore von Hummels und Subotic gingen auf seine kappe.

ansonsten hast du recht, wobei die Freistöße die These der individualtaktische Fokussierung bei Reus stärken noch einmal unterstreichen.

Antworten

MR 23. Dezember 2012 um 14:55

Wirklich eine herausragende Qualität. Ich hab das mal unter dem Lob für die Schusstechnik kategorisiert, denn das ist ja eigentlich nichts anderes.

Antworten

Wolfsmond 23. Dezember 2012 um 09:50

Der Favre in den Knochen 😀
Hab ich mir auch schon oft gedacht.. meine aber nach dem halben Jahr jetzt zunehmend Anzeichen der Klopp´schen Handschrift zu erkennen. Wie ihr sagt: „das Zusammenspiel von Reus und Götze glänzt noch lang nicht so oft, wie es könnte und sollte“ aber doch immer öfter.

Antworten

RP 23. Dezember 2012 um 09:16

Super, danke für den Artikel.
Ich hatte auch oft den Eindruck, dass Reus im Spiel nicht wirklich drin ist, wie zb Kuba und Götze. Interessant wäre vielleicht eine Ballbesitzstatistik über Reus im Vergleich zu seinen Mitspielern

Antworten

Rüdiger 23. Dezember 2012 um 08:58

Ihr sprecht es aus. Endlich. Danke.

Antworten

Hannes 23. Dezember 2012 um 10:28

kagawa war quasi ein gott in sachen ins-pressing-integrieren. das reus das nicht kann, ist mir besonders in den ersten spielen für den bvb aufgefallen. trotzdem ein geiler fußballer!

Antworten

Peter 23. Dezember 2012 um 08:30

Danke für diese interessante und aufschlussreiche Analyse.

Da die Analyse einen Schwerpunkt auf Reus als Ersatz für bzw. im Vergleich zu Kagawa legt, möchte ich einen Gedanken hinzufügen. Durch den Weggang von Kagawa kann Götze meines Erachtens nun in der zentralen Position besser seine Stärken entfalten. In den letzten zwei Jahren hatte ich oft den Eindruck, dass Götze und Kagawa gemeinsam auf dem Platz meistens nicht ihr volles Potential entfalten konnten.

Ich bin auf die weitere Entwicklung gespannt, denn neue Spieler scheinen in Dortmund (auf Grund der Komplexität des Systems?) Anlaufschwierigkeiten zu haben, bevor sie dann anfangen, ihre Stärken auszuspielen. Lewandowski und Gündogan fallen mir da spontan ein.

Ich wünsche schöne und erholsame Weihnachtsfeiertage.

Antworten

AlexF 23. Dezember 2012 um 11:30

Sehe ich auch so, alle Neuen haben in Dortmund Eingwöhnungszeit gebraucht. Irgendwann wirds auch wieder im Kollektiv runder laufen.

Antworten

Arnob 24. Dezember 2012 um 00:57

Ich denke jedoch, dass weder Reus noch Götze Kagawa nahezu equivalent ersetzen können. Ich empfinde, dass – was die Defensivstärke angeht – Kuba auf der Kagawa-Position die beste Wahl ist. Kuba hat sich im letzten Jahr unglaublich entwickelt. Er wirkt taktisch reifer, klüger, überlegter und klarer in seinen Aktionen. Diese Saison hat er (vor allem) im Spiel gegen ManCity überzeugt als er zentral offensiv gespielt hat. Götze hat zur Zeit auch trotz überragender Leistungen immer wieder schwächere Phasen in den Spielen in denen er körperlich und/oder geistig nicht in der Lage ist die Räume sehr gut zu zulaufen. Auf der rechten Seite sind die Phasen evtl weniger folgenreich als in Mitte. Durch die Flexibilität und Qualität der offensiven Dreierreihe kann bei OffensivAktionen das herausragende Verständnis von Kuba und Pisczek genutzt werden…

Insgesamt ist es eine größere Aufgabe Perisic in das Kloppsche System einzubauen als nem Reus…

Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Peter Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*