Niederlande – Türkei 2:0

Zum Auftakt der WM-Qualifikation kam es in der Gruppe D direkt zum Aufeinandertreffen der beiden wohl stärksten Teams.

Dem van-Gaal-Team fehlt noch der Ballbesitz

Grundformationen 1. Halbzeit

Nach dem enttäuschenden Abschneiden mit drei Niederlagen bei der EM wurde die Elftal in diesem Sommer zum zweiten Mal von Louis van Gaal übernommen. In seinem ersten Testspiel, einem 2:4 gegen Belgien, testete der ehemalige Bayern-Coach viel und gab fast allen EM-Fahrern eine zweite Chance. Nach den Erkenntnissen aus jener Partie sortierte er einige Spieler aus und brachte viele neue Akteure in die Mannschaft.

Die Grundformation und das ungefähre System der Mannschaft blieben aber unverändert – ein klassisches 4-3-3 mit einem alleinigen Sechser, richtigfüßigen, aber nicht unbedingt klassischen Außenspielern und verhältnismäßig wenig „Ballbesitz-Verpflichtung“. Dies lag auch daran, dass das niederländische 4-3-3 wie schon gegen die Belgier Probleme im Spielaufbau zutage förderte.

Gegen die Türken, die sich defensiv meist in einem 4-4-2 formierten, kam es oft vor, dass die Innenverteidiger Oranjes zugestellt waren und sich das Team im Spielaufbau frühem Druck ausgesetzt sah. In diesen Situationen setzten die Abwehrspieler wie auch der nicht immer um konstruktiven Aufbau bemühte Torwart Krul häufig auf lange Bälle – besonders in der zweiten Halbzeit war dies bei Führung zu sehen, als man unbedingt einen Ballverlust vermeiden wollte und dafür lieber den Ballbesitz aufgab. Insgesamt kamen die Niederländer somit aber nicht in ihren Spielrhythmus.

Dazu trug auch die erneut auftretende Problematik der Mittelfeld-Aufteilung bei: Besonders durch die hochstehenden Flügelspieler sowie den abkippenden Sneijder war der alleine im defensiven Mittelfeld spielende Jordy Clasie zu oft im Sechserbereich isoliert und konnte dort von den gut und aggressiv reagierenden Türken gepresst werden. Trotz seiner sehr guten spielerischen Anlagen verlor Clasie, der nicht seinen besten Tag erwischte, ebenso wie die Abwehrspieler gerade vor der Pause auf diese Weise einige Bälle, was zu türkischen Chancen führte – die beste hatte Arda, der nach Fehler Willems´ allein vor Krul auftauchte, aber vorbeischoss. Diese Probleme im Aufbau dürften zur zweiten Halbzeit eine Anweisung van Gaals zur Folge gehabt haben, lieber auf Nummer sicher zu gehen und Bälle zu klären statt alles spielerisch lösen zu wollen – eventuell könnte man dies als ungewohnt pragmatisch deuten, doch es ging bei Führung in diesem ersten Quali-Spiel eben darum, kein Tor zu kassieren.

Niederländische Offensivgefahr kommt dennoch auf

Wenn sie den Ball einmal in die Zentrale des zweiten Drittels gebracht hatten, erzeugten die Niederländer allerdings viele gefährliche Aktionen. Wie schon gegen die Belgier stach dabei besonders ihre linke Seite hervor, wo der wirbelnde Robben und der offensive Willems gut vom abkippenden Spielmacher Sneijder unterstützt wurden und im Kollektiv überladend einige schöne Spielzüge gegen die Türken lancieren konnten.

Ein zweiter vielversprechender Weg zur Torgefahr waren Läufe der beiden Außenspieler durch die Schnittstellen bzw. generell hinter die Außenverteidiger der hohen türkischen Viererkette. Während Narsingh zwar ein schönes 2:0 in der Nachspielzeit erzielte, ansonsten aber nicht überzeugen konnte und viele Situationen suboptimal ausspielte, war besonders Robben gefährlich. Durch die intelligenten Rückstöße des spielstarken van Persie wurde Robbens Spiel noch effektiver, da der Manchester-United-Neuzugang einerseits Räume in der Abwehr öffnen und andererseits selbst Pässe in diese Lücken spielen konnte. Durch eine solche Situation entstand auch die Ecke, die zur niederländischen Führung führte.

Ein besonderes Lob muss noch an Mittelfeldspieler Kevin Strootman von der PSV Eindhoven gehen. Während der vergangenen Saison sah es lange so aus, als ob er den perfekten Mittelweg zwischen dem offensiven van der Vaart und dem zerstörenden de Jong als Partner vom damaligen Kapitän van Bommel darstellen könnte – doch bei der EM spielte er fast gar nicht. Mittlerweile hat sich Strootman, den als wirklicher Allrounder seine vielen ausgeglichenen Fähigkeiten auszeichnen, noch einmal enorm weiterentwickelt und scheint sich bei seinen Qualitäten nun jenen Platz zu sichern, der ihm bei der Euro verwehrt blieb. In diesem Spiel war er der beste Niederländer, der offensiv wie defensiv viel Raum bearbeitete und immer wieder starke Aktionen zeigte – in dieser Form ist Strootman als Alleskönner aus dem Team kaum wegzudenken.

Die Türkei nutzt Oranjes Defensivprobleme nicht

So Mut machend die Offensive bereits auftrat, so anfällig präsentierte sich die Defensive in einem wahrlich offenen Spiel mit vielen Chancen auf beiden Seiten. Immer wieder gab es individuelle Fehler und Unsicherheiten der Verteidiger, die sich zu den Problemen bei eigenem Ballbesitz hinzu gesellten. So hatten die Türken eine Reihe von Chancen aufgrund dieser Fehler und Abstimmungsprobleme der schwach organisierten Defensive. Andererseits muss man die Niederländer hier auch insoweit in Schutz nehmen, als dass in einer solchen Umbruchphase eben viele junge Spieler in neu zusammengestellter Besetzung auflaufen müssen, was sie nicht besser aussehen lässt.

Die Türken nutzten die niederländischen Defensivprobleme nur ansatzweise aus, kamen zwar ebenfalls zu einer Reihe an Chancen, scheiterten aber entweder am Abschluss, an sich selbst oder an guten Rettungsaktionen (Heitinga). Sie versuchten, die Niederländer in den freien Halbräumen neben Clasie und hinter den Achtern, wo die Kompaktheit etwas fehlte, zu überladen. Schlüsselspieler war dabei der nominell als Zehner spielende Arda, der sich in einer Freirolle über den Platz bewegte und Überzahlen herstellen sollte. Allerdings waren die Türken nicht konsequent genug beim Ausspielen dieser Situationen und wollten dann in zu vielen Szenen über die Seiten vollenden. Weil man andererseits etwas ungeduldig wirkte und nicht genügend hinzustoßende Optionen vorhanden waren, verloren die Spielzüge in dieser Dissonanz etwas die Richtung und die Schärfe zum Tor hin. So konnte man das offensive Potential nicht vollständig ausschöpfen, wenngleich natürlich Torchancen ohnehin vorhanden waren.

Obwohl mit Mehmet Topal und Emre zwei spielstarke Akteure vor der Abwehr aufliefen, hatten die Türken ihre größten Probleme im Spielaufbau. Sobald die Niederländer aktiv auf die türkischen Verteidiger pressten, wählten diese schnell und teilweise überhastet den langen Ball, was zur temporeichen und offenen Spielcharakteristik beitrug. Wie bei ihren Gegnern fehlte den Türken die ausreichende Zulieferung einer eigentlich gefährlichen Offensive. Dass beide Teams dennoch viele Chancen kreieren konnten, zeigt die Gefährlichkeit der Angriffsreihen auf, wenn der Ball zu diesen gebracht werden konnte.

In der zweiten Halbzeit wurden die Türken immer offensiver, nach der Einwechslung eines zweiten Stürmers ging ihnen aber enorm die Bindung zwischen Mittelfeld und Angriff in der Zentrale ab. Im Zehnerbereich klaffte dadurch eine Lücke und die beiden Mannschaftsteile wurden zunehmend voneinander isoliert, was den Niederländern mehr und mehr Kontrolle im Mittelfeld einbrachte, während die Türken ungefährlicher blieben. Nationalcoach Avci agierte hier bei seinen Auswechslungen etwas unbedacht, schwächte er sein Team doch eher, indem er zusätzliche offensive Spieler in die Schlacht warf.

Fazit

Zu den Niederlanden lässt sich Ähnliches sagen wie nach dem Belgien-Spiel: Der Umbruch ist im Gange, das Grundsystem steht, das Angriffsspiel gestaltet sich bereits sehr ansehnlich. Probleme gibt es erstens noch im Spielaufbau beim Aufbau der Dominanz sowie im Sechserraum und zweitens in der Defensive. Von diesem Spiel ohne Gegentor sollte man sich also nicht täuschen lassen.

Die Türken zeigten gute Ansätze, haben allerdings noch eine ganze Reihe an Baustellen – im Spielaufbau fehlt es an konstruktiven Beiträgen der Abwehrspieler, die Personalwahl ist nicht immer nachvollziehbar (wieso wurde Torun den vielen anderen Alternativen vorgezogen?) und die Chancenverwertung schwach. Avci muss nun seine Linie finden und seine Grundaufstellung ausrichten sowie die Feinheiten (Auswechslungen) darauf abstimmen. Von den Spielern her ist die Qualität auf jeden Fall vorhanden, in der Gruppe zumindest hinter den Niederländern auf den zweiten Platz und damit in die Play-Offs zu kommen.

Majo 11. September 2012 um 13:21

Bin zwar nicht gefragt, gebe aber dennoch mal Antwort:

Ballverlust meint, im Aufbau bei einer Zweikampfaktion oder durch Fehlpass den Ball zu verlieren, was der Gegner mit gutem Umschalten zu Kontern bringen kann.

Aufgabe Ballbesitz meint, den Ball nach vorn zu schlagen, ihn von der gegnerischen Defensive aufnehmen zu lassen und dann entweder Gegenpressing zu spielen, oder den Ball im geordneten Rückzug irgendwo erobern. Der Vorteil: die eigene Mannschaft ist so bei Ballgewinn des Gegners nicht in einer offensiven Ausrichtung und kontrolliert das Spiel bestenfalls durch defensive Abstimmung.

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Fabi 11. September 2012 um 18:31

Ja, hab mir sowas auch schon gedacht. Aber es gibt doch fast immer die Möglichkeit zurück zu spielen, zur Not bis zum Keeper. „Wenn der Gegner nicht im Ballbesitz ist, kann er keine Tore schiessen“. Natürlich ist das etwas zu einfach gedacht, aber ich frage mich sowieso öfters, warum man es so oft sieht, dass hoffnungslose lange Bälle ohne große Not, nur aus Ideenlosigkeit, hinten raus geschlagen werden. Zumal wenn man einerseits im Kopfballspiel gegen die Innenverteidiger chancenlos ist und auch kein überragendes Gegenpressing ala Barca spielen kann.
Klar, wenn das zu weit geht, dann sieht das so aus wie Deutschland unter Berti Vogts mit 1 Mio. Querpässen hintenrum, aber ich finde das immer noch schlauer als dieses brotlose kick and rush.

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Fabi 9. September 2012 um 15:39

Danke für diese wieder einmal sehr interessante Analyse.

Was genau meinst du mit „…als man unbedingt einen Ballverlust vermeiden wollte und dafür lieber den Ballbesitz aufgab.“
Das klingt für mich irgendwie widersprüchlich.

Außerdem: Denkst du, dass die Holländer die Schwächen in der Defensive dauerhaft abstellen können, ohne vom 4-3-3 und ihrer offensiven Ausrichtung (Mit Robben, Sneijder und einem reinen MS, die alle nicht gut zurück arbeiten) Abstand zu nehmen? Mir scheint es, dass man in den letzten Jahren nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ die Defensive auch vom System her stark vernachlässigt hat. Das mag zwar gegen zweitklassige Gegner, wie in der Quali, zu Erfolg führen, aber wird von starken Teams doch zu einfach ausgenutzt.

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AW 8. September 2012 um 22:13

Was ist mit Enschedes Douglas, den du beim Artikel über van Gaals Einstand erwähnt hattest?

Wurde er nicht berücksichtigt oder ist er noch nicht spielberechtigt? Gibt es von van Gaal diesbezüglich schon irgendwelche Aussagen?

Allgemein würde mich interessieren, was van Gaal genau plant und wie viel er davon schon den Medien mitgeteilt hat. Hast du da irgendwelche Einblicke?

Vielen Dank im Voraus!

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TR 8. September 2012 um 22:24

Douglas wäre nach meinen Infos wohl spielberechtigt gewesen, allerdings wurde er nur für den vorläufigen, nicht aber den endgültigen Kader nominiert. Was genau der Grund war, kann ich nicht sagen, habe diesbezüglich noch keine Aussage von LvG gefunden.

Ich denke mal, dass van Gaal sicher noch versuchen wird, den Spielaufbau und das Aufbauen der Dominanz zu verbessern. Mehr Spielstärke in der Defensive, das Herausfinden einer Stammformation und dann Passspiel trainieren. In den tiefen Zonen geht ja recht viel über Mechanismen beispielsweise, die man auch als Nationalcoach gut einstudieren können sollte. Ansonsten wird eben personell noch getestet werden, doch ich denke, dass das Grundgerüst eben so steht. 4-3-3 mit Robben auf links dürfte wohl so bleiben. Der Kampf um die Sechs wird noch spannend, in der Abwehr eben und Narsingh darf sich auch nicht sicher sein, denke ich. In den Medien hat van Gaal sich eher zu einzelnen Spielern geäußert. Nach dem Belgien-Spiel gab es ja heftige öffentliche Kritik an Nigel de Jong, diesmal traf es den sehr begabten Clasie, zu dem van Gaal sagte, dass er diesmal ein schwaches Spiel gemacht und zu wenig nach vorne beigetragen habe (ist ja auch längst nicht mehr in der blendenden Form von 2011/12), und außerdem Janmaat, der wirklich nicht überzeugen konnte. Angeblich soll gar Maher auf der Sechs getestet werden, das wäre aber ultra-offensiv und würde Strootman in der Pflicht sehen, da abzusichern. Spielerisch wäre das allerdings sehr interessant. Derzeit denke ich aber, dass das Grundgerüst vom System her steht, während kleinere Änderungen und besonders personelle Dinge noch kommen werden.

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asti80 8. September 2012 um 21:40

Wie immer eine sehr treffende Analyse des gestrigen Spiels.

Meiner Meinung nach lag die Niederlage der Türkei an einigen wichtigen Faktoren, welche von Trainer Avci falsch oder gar nicht beachtet wurden:

– 4-2-3-1 als System funktioniert nicht bei den Türken. Es fehlt ein richtiger 10er. Arda Turan mag zwar als 10er in Madrid funktionieren, aber da hat er in Falcao auch einen guten Abnehmer. Der fehlt aber in der türkischen NM schon seit geraumer Zeit. Eigentlich schon seit der EM08, als Nihat glänzte.

– Falsche Startaufstellung: Tunay Torun ist der falsche Mann für die Startelf. Eigentlich hatte Avci im Sinn, dass Tunay auf der Seite für Dribblings sorgen sollte um so die holländischen Aussenverteidiger zu binden. Aber das hat nie wirklich funktioniert. Da wäre ein Arda die bessere Wahl gewesen.

– Das Duo Emre/Topal im ZM/DM: Beide sind zwar defensivstark, aber ihnen geht schlichtweg das Spielverständnis ab. Da wäre ein ZM in Gestalt von Selcuk Inan die richtige Wahl gewesen, da er sich auch gut mit Umut als MS versteht und ihn mit Pässen in die Tiefe bedienen könnte.

– Hamit Altintop als Aussenverteidiger: Hamit ist in meinen Augen kein gelernter RV und das merkt man auch. Er ist zwar ein Kämpfer und unermüdlich unterwegs, aber man sieht dass er schlichtweg ausser Form ist. Das rächt sich gegen einen Robben ungemein. Da wäre ein Gökhan Gönül die bessere Wahl gewesen.

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firedo 8. September 2012 um 20:37

schöner artikel.
liest sich prima.
kommt nochwas zum Deutschlandspiel von euch?

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RM 8. September 2012 um 21:23

Ja, dazu wird noch was kommen!

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