Vicente del Bosque – der Bescheidene

Ein Trainerporträt des Europameister-Coaches Vicente del Bosque.

Es ist der Morgen des 28. Juni 2012, der Tag des zweiten EM-Halbfinals zwischen Deutschland und Italien. Am Vorabend hat Titelverteidiger Spanien in einem Kraftakt im Elfmeterschießen die Portugiesen geschlagen und ist damit ins Finale vorgerückt. Doch in ganz Europa schreiben die Zeitungen nur über den langweiligen spanischen Spielstil. Trainer Vicente del Bosque ist der Buhmann.

Drei Tage später, 1. Juli 2012, gegen 23 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit: Im Endspiel haben die Spanier sich nach einem furiosen 4:0 über Deutschland-Bezwinger Italien zum „Tricampeon“ gekrönt und die Zeitungen schwärmen von ihrem Spielstil, sprechen gar von einer Sternstunde. Trainer Vicente del Bosque ist der große, visionäre Baumeister mit dem richtigen Fingerspitzengefühl für seine  vielen Stars.

In der heutigen Welt ist es vielleicht nicht ungewöhnlich, dass sich die Meinungen so schnell und so rasant verändern. Auch Vicente del Bosque kennt dies aus eigener Erfahrung nur zu gut. Schon oft schwankte sein Status als Trainer zwischen gefeiertem Held und verklemmtem Alten. Manchmal befand man ihn sogar trotz großen Erfolges als nicht gut genug.

Der Vater und Real Madrid prägen das Leben

Schon in frühester Kindheit spielt der am 23. Dezember 1950 in Salamanca geborene del  Bosque gerne Fußball – und das in der Jugendabteilung von Real Madrid. Neben den Königlichen ist Vater Fermón („ritterlich, aufrecht und frei von Falschheit“) die prägende Persönlichkeit in seinem Leben.

Ganz zusammen passen diese beiden Einflüsse nicht. Auf der einen Seite der Madrider Nobelklub, der immer vom spanischen Diktator Franco, einem regelmäßigen Besucher des Santiago Bernabeu, unterstützt wurde. Auf der anderen Seite Fermón del Bosque, wie so viele in der Familie ein Bahnbeamter, der im spanischen Bürgerkrieg als Linker aber ausgerechnet gegen genau jenes Franco-Regime gekämpft hat. Vicente del Bosque vereint beides – eine Fähigkeit, die er nicht zum Einzige Mal zeigt, die ihn später noch prägen wird.

Anfang der 70er-Jahre gelingt es dem arbeitsamen Mittelfeldspieler, sich nach mehreren Ausleihen an kleinere Klubs wie Castellón und Córdoba bei den Madrilenen einen Stammplatz zu erkämpfen. Für insgesamt weitere elf Jahre wird del Bosque den ruhigen, fleißigen und bescheidenen Arbeiter im Hintergrund geben, der für die offensiven Stars wie Netzer oder Santillana das Klavier trägt und ihnen den Rücken freihält.

Groß auffällig wird er nie, doch wichtig er ist für seine Mannschaft und seine Kollegen zu jeder Zeit. Für die fünf Meisterschaften und vier Pokalsiege, die er als Spieler mit Real Madrid gewinnt, werden oftmals andere gefeiert. Doch immerhin: Neun nationale Titel, elf Jahre bei Real Madrid, 18 Länderspiele für die spanische Nationalelf, darunter ein EM-Einsatz 1980 gegen Belgien, sind eine absolut sehenswerte wie zufriedenstellende Bilanz.

1984 also beendet del Bosque seine aktive Karriere und steigt gleich bei Real Madrid in die Nachwuchsabteilung ein – nicht als Jugendtrainer, sondern schon als Jugend-Koordinator. Es gibt eine gewisse Wertschätzung für die Vereinstreue sowie die fachliche Kompetenz del Bosques, der mit seiner neuen Rolle rundum zufrieden ist. Doch seine Wertschätzung wird ihm gewissermaßen zum Verhängnis – immer, wenn der Schleudersitz der Profi-Mannschaft wieder einmal frei wird, muss del Bosque als Interimslösung übernehmen – wie 1994, wie 1996 und wie 1999. Wirklich angenehm ist ihm das nicht – zu wenig Sicherheit, zu viel medialer Rummel und Aufmerksamkeit.

Vicente del Bosque und die Galaktischen

Bei jenem dritten Engagement, allerdings, gewinnt der eigentliche Lückenfüller im Jahr 2000 die Champions League und bekommt daraufhin von Präsident Florentino Pérez einen längerfristigen Vertrag für den Posten des Cheftrainers angeboten. Vielleicht willigt del Bosque auch deshalb ein, weil das Arbeitspapier eine Klausel enthält, die bei Erfolglosigkeit einen unmittelbaren Wechsel zurück in seine angestammte Aufgabe als Jugend-Koordinator vorsieht.

Doch von Erfolglosigkeit ist weit und breit nichts zu sehen: In seinen nicht einmal vier Jahren als Chef-Trainer der Madrilenen ist del Bosque mit dem Gewinn von zwei Champions-League-Titeln, zwei spanischen Meisterschaften, je einem nationalen wie internationalen Supercup sowie des Weltpokals weit erfolgreicher als irgendein anderer Real-Coach in der Ära der Galaktischen.

Dies kommt natürlich nicht von ungefähr, denn del Bosque versteht es hervorragend, die vielen wild zusammengekauften Weltstars und Individualisten so gut wie nur möglich in ein Gesamtkonzept einzugliedern. Es gelingt ihm, die ihm vorgesetzten Stars allesamt in die Mannschaft zu bringen, diese aber dennoch im Gleichgewicht zu halten und einen taktischen Kompromiss zu finden. Für das quasi aufgezwungene Personal liefert dieser Kompromiss das noch bestmögliche System.

Ein einfühlsamer Improvisationskünstler ist del Bosque nebenbei nicht nur im taktischen Sinne, sondern auch als Coach, der mit Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis seine Stars führt, mit diesen gut zurecht kommt und zwischen den bisweilen schwierigen sowie glamourösen Persönlichkeiten eine Harmonie aufbauen und halten kann. „Mein Beitrag war es, eine gewisse Einfachheit beizubehalten, diese ganze Welt des Marketings zu entdramatisieren“, sagt er heute rückblickend.

Real Madrids taktische Formation im Champions-League-Finale 2000 gegen Valencia (3:0)

Beim ersten europäischen Triumph 2000 ist eine Dreierkette der Schlüssel, da die weiten Vorstöße von Roberto Carlos dadurch sowohl für diesen einfacher möglich sind als auch besser abgesichert werden. Nach zwei derben Pleiten in der Zwischenrunde gegen die Bayern wirft del Bosque die Viererkette über Bord – der offensive Carlos und der ebenfalls sehr vorwärtsverteidigende Hierro hinterlassen für die Bayern riesige Lücken. Auch ein Hybrid aus 3-5-2 und 4-3-1-2 mit Geremi, der als nomineller rechter Halbspieler die Viererkette situativ verstärken soll, bringt nicht den erwünschten Erfolg. So entscheidet sich del Bosque für das klassische 3-4-1-2 – mit Absicherung für Roberto Carlos, aber ohne Hierro, der häufig nur noch auf der Bank sitzt. Auf der rechten Seite muss Michel Salgado deutlich defensiver spielen als Roberto Carlos, weil für McManaman nur noch ein Platz in der Zentrale bleibt und dieser dann schon auf die Außen rochiert. Sein Partner, Weltstar und Kapitän Redondo, bekommt in der Zentrale somit viel Raum um sich zu entfalten, ist dennoch abgesichert und kann leicht mit Raúl kombinieren. Durch die Bewegung um ihn herum kann dieser auch auf der Zehn seine Qualitäten zeigen, wodurch den beiden recht klassischen Endstürmern Morientes und Anelka beiden ein Platz in der ersten Elf zusätzlich zu Raúl eingeräumt werden kann.

Durch das Aufrücken eines der drei zentralen Verteidiger – meistens erfüllt diese Aufgabe Helguera oder Hierro, wenn er spielte – kann die Formation auch zu einem 4-3-1-2-artigen System umgewandelt werden.

Real Madrids taktische Formation im Champions-League-Finale 2002 gegen Leverkusen (2:1)

Dieses System wird man auch beim Titelgewinn zwei Jahre später verwenden, auch wenn man die Raute diesmal in ganz anderer Ausführung, nämlich eher als 4-1-3-2 interpretiert. Mittlerweile sind mit Luis Figo und Zidane zwei neue Stars zur Offensive der Madrilenen hinzugekommen. Eine Dreierkette wäre Ressourcenverschwendung, da sie die freien Plätze in der Offensive verknappen würde, und so wählt del Bosque eine Viererkette, in welcher die offensiven Ausflüge Roberto Carlos´ durch eine defensivere Spielweise von Salgado sowie einen zerstörenden Sechser aufgefangen werden. Dieser Sechser ist Claude Makélélé, ein wenig kreativer, aber offensiv wie defensiv enorm verlässlicher Mittelfeldspieler, der als Wellenbrecher vor der Abwehr agieren und durch seine Wendigkeit sowie Spielintelligenz den großen Raum hinter der Offensive zulaufen kann.

Mit Figo und Solari werden die Halbpositionen der Raute durch recht offensive Spieler besetzt, was allerdings funktioniert, weil beide über eine gute Technik, Spielintelligenz und ein gutes Verständnis für die Absicherung verfügen. Somit arbeiten sie auch Spielmacher Zinedine Zidane zu, dessen Verpflichtung Raúl eine Ebene nach vorne verschiebt – der ewige Madrilene wird in der Spielgestaltung entlastet und kann sich verstärkt auf den Bereich in der Nähe des Strafraumes konzentrieren. Weil Anelka nicht mehr bei den Madrilenen spielt, muss neben Raúl nur noch Morientes in die Mannschaft gebracht werden, während Zidane in einem 4-3-1-2 am besten auf der Zehn spielen kann. Außerdem hat Raúl als hängende Spitze den primären Kreativspieler mit Zidane erneut (wie 2000 mit Redondo) hinter sich und nicht neben sich, wenn Raúl auf der Zehn und Zidane halblinks gespielt hätte.

Erst die enorm moderne Leverkusener Mannschaft in ihrem beweglichen und asymmetrischen 4-1-4-1 ohne echten Stürmer kann das in Kauf genommene Provisorium eines Systems ausnutzen – und dennoch im Finale 2002 nicht gewinnen.

Zur kommenden Saison wird unter großem Medienrummel der WM-Star und –Torschützenkönig Ronaldo verpflichtet – ein weiterer großer Name, der in der Startaufstellung spielen muss. Schon in der Vorsaison hat del Bosque neben dem 4-1-3-2 auch ein 4-2-3-1 spielen lassen, das durch einen zweiten Spieler vor der Abwehr für mehr defensive Sicherheit sorgt. Morientes und Solari müssen nun für Ronaldo und den zusätzlichen Sechser weichen.

Hinter Ronaldo bilden Figo auf rechts, Raúl im Zentrum als hängende Spitze und Zidane eingerückt auf links die Dreierreihe. Diese Aufteilung hat sich in der Vorsaison bewährt, nachdem Zidane in der zentral-offensiven Position mit Problemen zu kämpfen hatte. Im 4-2-3-1 habe er nur einen anstelle von zwei Stürmern vor sich gehabt, wie es in den klassischen 4-3-1-2- und 3-4-1-2-Systemen in seiner Juventus-Zeit gewesen war, so Zidane später. Mit dem Wechsel auf die linke Seite kommt del Bosque den Wünschen seines Stars nach. Nun wird der nach vorne ziehende Raúl für den nach innen ziehenden Zidane zur gewünschten zweiten Anspielstation neben Ronaldo, obwohl sich die Formation effektiv nicht verändert hat – nur der Standpunkt.

Real Madrids bevorzugte taktische Formation in der Saison 2002/03

Nach der Verpflichtung von Ronaldo führt del Bosque nicht nur die doppelte Mittelfeld-Absicherung als Standard ein, sondern forciert auch eine deutliche Asymmetrie im System, dessen Schwerpunkt nun auf der linken Seite liegt. Mit dem eingerückten Zidane, dem leicht abkippenden Ronaldo sowie dem vorstoßenden Roberto Carlos auf dieser dominanten Seite können immer wieder Überzahlen kreiert und Spielzüge durch den Halbraum gestartet werden. In diesem Raum wird die individuelle Klasse einiger Akteure gebündelt und ihre Qualitäten feinfühlig aufeinander abgestimmt, während dahinter auf der Sechs Makélélé oder der junge Esteban Cambiasso absichern.

Als Gegengewicht zum abenteuerlustigen Roberto Carlos muss Rechtsverteidiger Michel Salgado noch etwas vorsichtiger spielen und die starke linke Seite absichern. Dadurch besteht aber die Gefahr, dass der ohnehin auf der schwächeren Seite spielende Luis Figo isoliert werden würde. Doch del Bosque lässt Figo in einer breiten Rolle spielen, der immer wieder von der Konzentration des Gegners auf die linke Madrider Seite zum Beispiel nach Seitenverlagerungen profitieren soll. Um den Raum zwischen dem breiten Figo und dem tiefen Salgado zu schießen, spielt der halbrechte Sechser – für gewöhnlich Flavio Conceicao – etwas offensiver und rochiert auf die rechte Seite, um die dort sowie im Halbraum entstehenden Löcher zuzulaufen. Insgesamt entsteht erneut eine starke, fluid und kreativ spielende Mannschaft, die del Bosque aus den vielen Offensivindividualisten formen kann – auch wenn es erneut ein Drahtseilakt ist.

Im Sommer 2003 reißt das Drahtseil abrupt und es kommt zum Ende der Beziehung zwischen del Bosque und Real Madrid. Das Aus im Halbfinale der Champions League kann durch einige mitreißende Auftritte und den Gewinn der spanischen Meisterschaft scheinbar nicht bei Präsident Pérez „wiedergutgemacht“ werden. Noch in der Meisternacht wird del Bosque zum Dank von seinem Amt entbunden, was Pérez damit begründet, dass man einen Trainer brauche, „dessen Profil besser zu unserem Image passt.“

Die Art und Weise, wie del Bosque nach weit über 30 Jahren aus „seinem“ Verein entfernt wird, hinterlässt tiefe Narben: „Der Bruch hat sich angefühlt, als wäre er mit einem Bruder passiert.“ Immer wieder übt er ungewöhnlich harsche öffentliche Kritik an der Vereinsführung und ist gar so verbittert, dass er jegliche Ehrungen seitens Real Madrid für seine Dienste bisher kategorisch abgelehnt hat.

Selección mit weißer Weste zu zwei Titeln geführt

Nach einer einjährigen Pause und einem ebenfalls einjährigen, wenig erfolgreichen Intermezzo bei Besiktas Istanbul (liegt dies vielleicht darin, dass dies die einzige Station del Bosques ohne wirkliche Stars ist?) nimmt sich del Bosque erneut eine Auszeit, die mehrere Jahre dauert, ehe er mit aufgeladenem Akku im Juli 2008 die spanische Nationalmannschaft von Luis Aragonés übernimmt, der sich mit dem Gewinn der Europameisterschaft aus seinem Amt verabschiedet. Insofern übernimmt del Bosque keine leichte Aufgabe.

Spaniens taktische Formation im Confed-Cup-Halbfinale 2009 gegen die USA (0:2)

„Was nicht kaputt ist, muss nicht repariert werden“, meint del Bosque, lässt sein erfolgreiches Team ohne die wirklich großen Veränderungen einfach weiter spielen und die Dinge laufen. Anfangs mit Erfolg, denn die Spanier eilen von Sieg zu Sieg und stellen Rekorde für ihre Serien auf. Doch dann kommt der Confederations-Cup 2009, die Generalprobe für die Weltmeisterschaft, welche man unbedingt gewinnen will – im Halbfinale scheiden die Spanier verdient gegen den Außenseiter USA mit einem überraschenden 0:2 aus.

Del Bosque meint nun, dass er etwas verändern muss. Die seit der Aragonés-Zeit gespielte Formation – je nach Personal ein 4-1-3-2 oder ein 4-1-4-1 – scheint ihm nicht mehr stabil genug. Alleine kann Xabi Alonso die Räume vor der Abwehr nicht abdecken in diesem Spiel, während der hochstehend zockende  Charlie Davis, der sich in einer Zwischenposition aus zentralem und äußerem Angreifer befindet, durch seine gefährlichen Diagonalläufe Sergio Ramos bindet und Spanien die Breite im Spiel nimmt. Um mehr defensive Sicherheit und mehr Befreiung für Ramos zu erreichen, führt del Bosque einen zweiten Sechser ein.

Spanien im WM-Finale 2010 gegen die Niederlande (1:0 n.V.)

Es dauert nicht lange bis ein junger Mann sich aufmacht, diesen Posten perfekt auszuführen – der Aufstieg Sergio Busquets passt del Bosque haargenau in sein Konzept. Ein spielintelligenter Sechser, der hinter offensiven Künstlern aufräumt ohne spielerisch abzufallen – del Bosque erkennt im neuesten „Produkt“ der berühmten „La Masia“-Ausbildung eine moderne Version von sich selbst. Bis zur Weltmeisterschaft ist das neue System eingeübt und zeigt sich dort auch funktionstüchtig. Nach der Auftaktniederlage gegen die Schweiz folgt nur noch ein einziges Gegentor auf dem Weg zum Titelgewinn. Auf der anderen Seite der Medaille, allerdings, entsteht dadurch offensiv ein Problem, das sich in den zahlreichen 1:0-Siegen manifestiert und auch zwei Jahre später ein großer Gesprächspunkt sein wird.

Innerhalb dieser Zeitspanne – zwischen Welt- und Europameisterschaft – testet del Bosque fast schon wild und nimmt in den Freundschaftsspielen auch einige sehr schwache Ergebnisse in Kauf: 1:4 gegen Argentinien, 0:4 gegen Portugal, 1:2 gegen Italien. Das Ausprobieren reicht von einem enorm fluiden 4-2-4-0 über ein enges 4-2-3-1 mit Fábregas als Zehner bis hin zu klassischen 4-3-3- und 4-4-2-Systemen. In den WM-Qualifikationsspielen wird dieses Experimentieren allerdings nur in erheblich geringerem Umfang durchgeführt, so dass man in der eher schwachen Gruppe ohne Punktverlust Erster wird, und am Ende setzt del Bosque dann wieder auf das Bewährte: Ein 4-3-3 mit seinen vier Spielmachern Busquets, Xabi Alonso, Xavi und Iniesta.

Bei der WM spielten in der Offensive neben Iniesta zusätzlich mit Villa und Torres zwei Stürmer oder Villa sowie ein etwas breiterer Spieler, meistens Pedro. Zur Europameisterschaft ist dann Villa verletzt, wohingegen David Silva durch eine starke Entwicklung bei del Bosque inzwischen absolut gesetzt ist. Um den Posten des einzigen Stürmers streiten sich Torres und Fábregas. Die offensiven Probleme des Systems del Bosque sind aber dieselben geblieben, wenngleich Jordi Alba als Linksverteidiger wie ein Segen wirkt.

Durch gleich vier Spielmacher wird der Ballbesitz in verstärktem Maße provoziert. Unproduktive Passstafetten und eine Redundanz im Spiel sind die Folge – die vielen Zirkulationsstationen in der Tiefe spielen den Ball ewig hin und her, ohne nach vorne zu kommen. Die Spielmacher stehen sich gegenseitig im Weg und füllen die Rolle des jeweils anderen bereits aus, so dass man effektiv einen Spieler zu viel hat, der ohne wirkliche Funktion ist und an anderer Stelle fehlt. Diese Stelle ist meistens das letzte Drittel, in welchem man nicht genug Präsenz entwickeln kann und in welches man zu selten hineinspielt, da sich alle Spielmacher in der Tiefe des Raumes ballen, dort aber beschneiden.

Zusammengenommen ergeben der zurück verlagerte Spielschwerpunkt sowie die verringerte Stärke im Angriff ein langsames, teilweise schleppendes und zu stark auf den Ballbesitz fokussiertes Offensivspiel. Ohne genügend Zug zum Tor und Durchschlagskraft wird es von den Zuschauern zu Recht als nicht attraktiv empfunden.

Spaniens taktische Formation im EM-Finale 2012 gegen Italien (4:0)

So geht das fast das gesamte Turnier hindurch. In der Vorrunde kann das 4:0 gegen das irische Fallobst noch beschwichtigen, doch spätestens mit der Art und Weise des Halbfinal-Sieges gegen Portugal sind alle Zweifler, Kritiker und Skeptiker wieder da. Vicente del Bosque scheint seine Gabe verloren zu haben, alle zur Verfügung stehenden Individualisten unter einen Hut zu bringen, denn aus der Mannschaft heraus nehmen kann er keinen seiner vier Spielmacher.

Doch so sehr Öffentlichkeit und Taktikblogs del Bosque auch für seine Aufstellung und Taktik kritisieren, übersehen sie dabei vielleicht, dass del Bosque eigentlich schon die ganze Zeit auf seine typische Art und Weise die Starspieler, die er spielen lassen muss, so gut wie möglich einsetzt. Für jene Spieler lässt del Bosque im Großen und Ganzen die beste Taktik praktizieren. Dass diese Taktik in der Theorie bei weitem nicht alles aus dem gesamten Kader herausholt, fällt diesmal – beispielsweise im Gegensatz zu seiner Zeit bei Real Madrid – nur besonders auf.

Es gibt wenige Optionen für del Bosque – und so nimmt er dann die offensiven Nachteile seines erzwungenen Systems in Kauf und kann sich wenigstens über die so entstehenden defensiven Vorteile freuen. Sein System sorgt für erhöhte defensive Stabilität, da durch die vermehrte Ballsicherheit Ballverluste minimiert werden, in fast allen Situationen verhältnismäßig viele Spieler hinter dem Ball sind und man generell die Räume im Mittelfeld und vor der Abwehr stärker besetzt und folglich auch stärker verengt als andere Teams. Mit nur einem Gegentreffer im gesamten Turnier werden die Spanier ihre eigene Bestmarke noch einmal unterbieten und wie schon 2008 und 2010 auch 2012 ohne Gegentor in den K.O.-Spielen den Titel gewinnen. Zum zweiten Mal führt del Bosque seine Mannschaft mit weißer Weste zum Fußball-Thron.

Hätte es das fast schon furiose Finale gegen Italien nicht gegeben, hätte diese weiße Weste allerdings wohl nur faktisch, keinesfalls aber im übertragenen, moralischen Sinne existiert. Doch mit dem 4:0 gegen „das neue Italien“ schießt sich Spanien in den Fußball-Olymp und zeigt den Zuschauern endlich, was sie sehen wollen. Einige kleine Anpassungen des eigenen Systems an die Besonderheiten der italienischen Rautenformation genügen zu einer entfesselten Vorstellung. In Wahrheit ist del Bosque von seinem Prinzip aber kaum abgerückt.

Was zeichnet Vicente del Bosque aus?

Das Besondere an del Bosque ist, dass er es hervorragend versteht, eine Balance zwischen Stars und System herzustellen und für die zur Verfügung stehenden Akteure das bestmögliche System kreiert. Er ist kein innovativer Trainer, der in jahrelanger Arbeit die gesamte Mannschaft austauscht, um seinen Plan vom Fußball zu verwirklichen. Vielmehr gelingt es ihm, alle vorgesetzten Starspieler unter einen Hut und in eine funktionierende Taktik zu bringen, auch wenn diese Spieler zunächst kaum zusammen zu passen scheinen.

In seiner Spielerkarriere musste er eine Brücke zwischen der Identität seines Vereines und seiner familiären Ausrichtung schlagen. Als Trainer von Real Madrid musste er alle vorhandenen Starspieler irgendwie in die Mannschaft quetschen, aber das System dennoch funktionstüchtig halten und gleichzeitig Streitereien zwischen den großen Namen verhindern.

Auch als spanischer Nationaltrainer hatte er aufgrund der hohen Erwartungen durchaus einiges zu verlieren und dabei eine schwere Aufgabe. So musste er taktische und offensive Nachteile in Kauf nehmen, um keinen der vier tiefen Spielmacher aus der Mannschaft nehmen zu müssen. Er schaffte es letztlich wieder, den Kompromiss zum Erfolg zu führen.

Schließlich gelang es del Bosque, auch zwischen den Spielern der rivalisierenden Lager aus Barcelona und Madrid jene Harmonie wieder herzustellen, die durch so manchen „Clásico“ beschädigt worden war. Die einstigen Freunde Casillas und Xavi sollen zerstritten gewesen sein, während Ramos und Piqué sich angeblich weigerten, zusammen in der Innenverteidigung zu spielen. Diese Situation konnte del Bosque entschärfen.

Vicente del Bosque ist kein Taktikfuchs und auch kein moderner Innovator. Man sollte ihn aber auch nicht auf den Menschenversteher reduzieren, der für Harmonie unter Starspielern sorgt und sie bei Laune hält. Sein taktisches Improvisationstalent und seine taktische Flexibilität im Zusammenführen einer Unzahl von Topspielern in ein Kompromiss-System verdienen ebenfalls hohe Anerkennung.

Vincent del Bosque ist ein großer Mann, den seine Bescheidenheit prägt. Er weiß, seine eigene Persönlichkeit im Hintergrund zu halten und sich kompromissbereit einer Sache zu verschreiben. Taktisch wie zwischenmenschlich und auch im öffentlichen Auftreten beherrscht er es in Perfektion, den Mittelweg zwischen Extremen zu finden. Dass der spanische Nationalheld in einer schlichten Etagenwohnung eines Madrider Neubaugebietes lebt, steht symbolisch für das, was ihn als Trainer auszeichnet.

PG 21. Juli 2012 um 15:42

Sehr gelungener und aufschlussreicher Artikel!

Vorallem die jeweiligen Taktiken der Phasen Del Bosques Trainerstationen bei Real bzw. der „Furia Roja“ (CL Saison 2000, 2002 , EM 08, WM 10, EM 12) finde ich sehr aufschlussreich, gut veranschlaulicht und insgesamt sehr gelungen!

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Robert 14. Juli 2012 um 18:28

Danke für den nächsten guten Artikel!
Als Vorschlag für den nächsten Artikel: Francisco Vilanova i Bayó
Über den findet man leider nur sehr wenig, obwohl er immerhin den FC Barcelona trainieren wird.

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PG 21. Juli 2012 um 15:42

sehr gute Idee. 😉

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joao 13. Juli 2012 um 15:23

Guter Artikel!

Was man vielleicht noch erwähnen könnte, sind auch die privaten Schicksalsschläge, die er zu überwinden hatte, so starb beispielsweise sein Bruder jung, ein Sohn von ihm kam mit Down-Syndrom auf die Welt.

Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass der Vater (wie auch der Bruder) Fermín hieß und nicht Fermón, da dieser letzte Vorname nicht existiert.

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El Siete 12. Juli 2012 um 11:11

Sehr schöner Artikel.

Man erkennt sehr schön, wie es zu der Aufstellung der spanischen Nationalmannschaft gekommen ist, die seit vier Jahren völlig zurecht den Fußballthron besetzt.
Besonders gefällt mir die Beschreibung del Bosques Lebensgeschichte, in der er immer wieder als Brücke verschiedener Konfliktherde funktioniert, was auch erklärt, warum er diese individuell hochklassigen Mannschaften so gut zu einer Einheit führt. Vielleicht hätte man die Geschichte mit seinem Sohn, der am Down-Syndrom erkrankt ist, noch einbauen können. Denn wie del Bosque selbst sagt, relativiere solch eine Situation die Dinge. Das scheint mir auch eine Geschichte zu sein, die den Menschen del Bosque natürlich sehr geprägt hat.

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Jeff 12. Juli 2012 um 09:57

Toll!

Macht doch noch ein Foto von ihm ganz oben rein, dann wirkt das noch etwas persönlicher und ist thematisch leichter zu erkennen.

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crs 12. Juli 2012 um 09:23

in so einem artikel würde ich mir generell mehr verlinkte fremdquellen und zitate wünschen, damit euer geschriebenes mehr gestützt wird.
sonst wirken getätigte aussagen oder schlussfolgerungen (z.b. usa-niederlage > doppel6 > sergio) selbst geschustert oder gar „overanalyzed“.

davon abgesehen..der artikel ist recht gelungen.

bzgl franco/..:
auf „equaliserfootball(dot)com“ wurde mal eine tolle dissertation veröffentlich.
titel: ‘To what extent can Real Madrid CF and FC Barcelona be considered to have been political institutions in Spain during the twentieth century?’
leider wurde der blog eingestellt. wer jedoch wirkliches interesse an dem stück hat, der könnte es ja mal mit einer mail an den blogger versuchen.

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blub 12. Juli 2012 um 09:35

Es ist doch eigentlich bekannt, das eigentlich Altetico Madrid das favorisierte Team der Staatsspitze war und auch unterstütz wurde, aber als Real dann international sehr erfolgreich wurde, hat man auch versucht Real zu vereinnahmen, was aber nicht so richtig funktioniert hat.

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Tery Whenett 12. Juli 2012 um 08:34

Einer der besten Texte, die ich hier gelesen habe – und das will was heißen. Hut ab!

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JAS 12. Juli 2012 um 08:16

Schöner Artikel! Vielen Dank dafür.

Kleine Kritik:

Könnte es nicht einfach eine Unterstellung sein, dass er seine gegenwärtige Taktik wählt, nur um seine Starspieler in der ersten 11 unterzubringen? Mir scheint seine Defensiv-Taktik doch sehr sehr erfolgreich und richtig zu sein. Wenn wir schon am Spekulieren sind, spekulier ich mal, dass Spanien im Viertelfinale derEM gegen Portugal nur mit Busquest und Xavi auf der Sechs und ohne Xabi Alonso ausgeschieden wäre….

Und: Torres, Fabregas, Mata sind weniger Stars als Busquets und Alonso? Hm, auch das würde ich anders sehen.

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vastel 11. Juli 2012 um 23:02

Danke, sehr schöner Artikel!

Ich finde del Bosque wird wirklich gut herausgearbeitet und seine Qualitäten gewürdigt, ohne ihn zu sehr auf ein Podest zu heben. Del Bosque profitiert von einer überragenden Generation und die Spieler profitieren davon, dass er sie alle unter einen Hut bekommt.

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El_Madrid 11. Juli 2012 um 21:32

@tank

Naja, was verstehst du unter „unterstützen“? Bekannt ist, dass er im Clasico 1943 Leute in die Kabine von Barca geschickt hat, um deren Spieler einzuschüchtern, das Spiel ging 11:1 aus, aber ansonsten? Eher hat Franco den Klub ausgenutzt, zwecks Propaganda
Durch den Satz bekommt man halt den Eindruck, als wenn Franco in irgendeiner Weise Anteil an der erfolgreichen Historie Madrids hat, was aber auf keinen Fall stimmt, mehr wollt ich eigentlich auch nicht sagen

Alles andere im Bezug zu Franco und Real Madrid ist leider nur spekulativ, keiner wird je sagen können, ob Franco überhaupt irgendeinen Einfluss auf den damaligen Fußball hatte.

Will den schönen Artikel jetzt aber auch nicht mit nutzlosem Zeug zuspammen, also Schluß damit.

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Rasengrün 11. Juli 2012 um 19:33

Gelungener Artikel! Besonders, weil die Entwicklungen von Mannschaften und die Gründe, die zu ihnen geführt haben, deutlich werden. Darüber würde ich sehr, sehr gern häufiger etwas lesen.

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Tank 11. Juli 2012 um 19:49

Volle Zustimmung! Sowohl zu dem Lob als auch dazu, dass Entwicklungen von Mannschaften ein hochinteressantes Thema ist. Im Rahmen eines solchen Artikels könnte man sich z.B. mal die Gesamtentwicklung der Galacticos angucken…oder Milan von Sacchi zu Capello…

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TS 11. Juli 2012 um 18:43

Zuerst einmal ein großes Kompliment an den Autor: ein wirklich sehr gelungener und überaus interessanter Artikel.

Nur einen Abschnitt verstehe ich nicht bzw. ein Abschnitt passt für mich nicht zusammen:
„Beim ersten europäischen Triumph 2000 ist eine Dreierkette der Schlüssel, da die weiten Vorstöße von Roberto Carlos dadurch sowohl für diesen einfacher möglich sind als auch besser abgesichert werden. Nach zwei derben Pleiten in der Zwischenrunde gegen die Bayern wirft del Bosque die Viererkette über Bord (….)“
Du redest zuerst von der Dreierkette und dann darüber, dass er die Viererkette über Bord wirft.
Kannst du mir das vielleicht nochmal erklären?

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Tobias 11. Juli 2012 um 18:46

In der Viererkette hat Roberto Carlos Außenverteidiger gespielt. In der Dreierkette wird er in das Mittelfeld gezogen. Die Dreierkette ist im Finale der Schlüssel zum Erfolg, weil sie die Viererkette aus dem Halbfinale abgelöst hat.

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TS 11. Juli 2012 um 19:17

ah okay 🙂
Vielen Dank für die schnelle Antwort!

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laterookie58 11. Juli 2012 um 18:19

Ich schließe mich Tobias herzlich gerne an: großartiger Artikel!!! Tolle Recherche und sehr lesenswerte Details zum Menschen und seinem erstaunlichen Werdegang.
By the way: so habe ich del Bosque aufgrund seines Auftretens eingeschätzt.

Für mich eine sehr lebendige Reise in die Vergangenheit:
ich habe Real Ende der 70er live gesehen. Und einige von den genannten und dargestellten Namen haben mich an das Ereignis erinnert.

Herzlichen Dank, TR. laterookie58

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Johnny 11. Juli 2012 um 18:00

Tolle Geschichtsstunde und tolles Porträt. Wieder mal 1a Artikel!

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El_Madrid 11. Juli 2012 um 17:39

Ganz vergessen: Toller Artikel. So fällt es einem leichter, die fußballlose Zeit zu überstehen. Definitiv eine bessere Alternative zu den ganzen nervigen Transfergrüchten auf anderen Sport-Seiten.

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Tobias 11. Juli 2012 um 17:35

Ein großartiger Artikel! Vielen Dank

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El_Madrid 11. Juli 2012 um 17:21

„Ganz zusammen passen diese beiden Einflüsse nicht. Auf der einen Seite der Madrider Nobelklub, der immer vom spanischen Diktator Franco, einem regelmäßigen Besucher des Santiago Bernabeu, unterstützt wurde“

Vorsicht, Jungs! Da begebt ihr euch auf dünnes Eis, da es keine Beweise für gibt, außer das Spiel 1943..

Ist zwar nur nebensächlich, aber passt in eure, sonst immer tollen, Artikel nicht rein!

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Tank 11. Juli 2012 um 19:45

Ich frage jetzt mal wirklich nur aus Interesse: Warum ist es nicht klar, dass Franco Real Madrid, auf welche Weise auch immer, unterstützt hat? Dachte immer, dass nur das Ausmaß seiner Unterstützung (also ob und wenn ja, wie viele Spiele durch seinen Einfluss manipuliert wurden) fraglich ist.

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