Polen – Russland 1:1

Die Russen waren der Favorit im Spiel gegen die polnische Nationalmannschaft – und das, obwohl die Sbornaja auf fremden Terrain antreten musste. Von Beginn an zeigte sich eine rassige Partie, welche eigentlich beide Mannschaften als Sieger verdient hätte. Die Russen spielten intelligent und in Ballbesitz sparten sie ihre Kräfte, zumindest in der zweiten Halbzeit. Vor dem Seitenwechsel spielten sie wie ihr Gegner offensiv und geradlinig, lediglich aufgrund der höheren individuellen Qualität und generell horizontaleren Ausrichtung verbuchten sie mehr Ballbesitz. Polen hingegen konnte viele Angriffe nicht zu Ende spielen, aber ihr Siegeswille hielt sie im Spiel. In der zweiten Halbzeit konnten sie sich vermehrt Spielanteile zurückerobern und Stück für Stück näher an das russische Tor kommen. Eine schnelle Aktion wurde von einem hervorragenden Schuss des Dortmunders Blaszczykowski abgeschlossen, was zum verdienten Ausgleich führte.

Die Wechselwirkungen der jeweiligen Formationen

Der ARD-Kommentator sprach bezüglich der Polen von einem Tannenbaumsystem – auf die Systemzahlen dezimiert hatte er Recht. Am besten wäre es wohl als 4-3-2-1 beschrieben, doch hier gab es unterschiedliche Gründe, worin sich diese Variante vom Tannenbaum unterscheidet. Das Tannenbaumsystem erhält seinen Namen aus der grundschematischen Ähnlichkeit mit dem botanischen Äquivalent, Polens hängende Stürmer agierten jedoch auf den Flügelpositionen. Obraniak orientierte sich entsprechend seines Naturells gerne ins Zentrum, Blaszczykowski hingegen suchte die Lücken und Piszczek hinter sich. Einige Ausbrüche aus dem Taktikkorsett mit inversen Läufen oder zentralen Positionierungen konnten ebenfalls beobachtet werden, unter anderem natürlich bei seinem wundervollen Treffer.

Grundformationen zu Beginn

Folglich entstand aus der etwas unterschiedlichen Offensivbewegung eine Asymmetrie, die durch Murawski ausgeglichen wurde. Er beteiligte sich weniger am Spielaufbau, sondern ging vertikale und diagonale Wege, um entweder das Zentrum als Kombinationspartner auszufüllen oder sich hinter Obraniak als Absicherung zu positionieren. Bei Kuba übernahm diese Rolle teilweise Polanski, zumeist wurde die defensive Löchrigkeit jedoch durch eine leicht verschiebende Dreierkette in Mittelfeld oder Abwehr abgefedert. Im Verbund mit der linken Asymmetrie und Boenischs Vorstößen kristallisierte sich eine fixe und gemeinsam spielgestalterisch agierende Doppelsechs mit Routinier Dudka und Polanski neben ihm heraus.

Somit stand ein in einer Linie angeordnetes Dreiermittelfeld einem Dreieck gegenüber, was in der Theorie zu den groteskesten Abhandlungen führen könnte. Praktisch sah es so simpel ausgedrückt aus, dass die Linie von den Polen genutzt wurde, um die Schnittstellen der Viererkette dahinter mit ihrem Deckungsschatten zuzustellen. In der Offensive entstand mit Dudka und der Asymmetrie auf der halblinken Seite ohnehin ein verkapptes Dreieck, welches von Lewandowski bei Bedarf komplettiert werden konnte.

Russland konnte durch die erhöhte Tiefe im Mittelfeld jedoch unmittelbar nach Ballgewinnen den Ball besser zirkulieren lassen, da sie eine organisierte Einteilung hatten: abgestimmt darauf, dass im Idealfall die Spieler der Halbpositionen den Ball erobern und dann Denisov in ihrer Nähe wissen. Bei den Polen musste der Ball fast zwangsläufig schnell auf die Außen gespielt werden, da durch die gegnerangepassten Verschiebungen der Formation keine festen Positionen mehr zu erkennen waren. Das Abwehrpressing, wenn praktiziert,  lebte von der Abdrängung nach Außen und dortiger Eroberung. Darum konnten nie sichere Bälle in die Mitte gespielt werden und der Ballbesitz hielt sich in Folge dessen sehr in Grenzen. Erst später, als das Pressing aufgrund des Rückstandes etwas früher gespielt wurde, veränderte sich dies. Ohnehin war das Pressing eine interessante Strategie der Polen.

Polens Forechecking

Die Hausherren positionierten sich tief, ungefähr zehn Meter hinter der Mittellinie. Sie überließen die gegnerische Hälfte deren Besitzer und hielten sich weitgehend davon entfernt. Ab und zu tauchte Lewandowski in der Nähe der gegnerischen Innenverteidiger auf. Mit kurzen diagonalen Läufen gab es eine Art false-pressing, was die Russen nach vorne treiben sollte. Ihnen sollte eine Falle gestellt werden, welche sich banal gestaltete.

Polens 4-5-1. Die Schnittstellen in den Rücken der Abwehr sind dicht, es können aber auf vereinzelte Spieler Diagonalbälle gespielt werden, die sie aber nicht im Lauf aufs Tor annehmen können. Die drei zentralen Mittelfeldspieler füllen die Löcher der engen Viererkette

Variante a) war das Forcieren von Angriffen über die Flügel, wo sie gepresst wurden und schnelle Konter der Polen gefahren werden konnten. Um dies zu erzeugen, ging manchmal sogar Obraniak oder Murawski nach vorne und es wehte ein Hauch von 4-4-2 über den Platz. Variante b) stellte eine riskante Alternative dar, die durch diese Aufstellung einigermaßen akzeptabel gespielt werden konnte. Durch die engen Linien fanden die zentralen Mittelfeldspieler kaum Durchkommen, konnten allerdings vereinzelte Gassenpässe spielen. Diese Löcher wurden bewusst gelegentlich aufgesperrt, weil die Polen mit einer engen Viererkette aufwarteten und dann im Rückwärtspressing des Mittelfelds Überzahlsituationen oder überhastete Aktionen provozierten.

Generell kümmerten sich die Polen sehr um eine Verengung der Viererkette bei gegnerischem Ballbesitz. Teilweise agierten sie sogar wie eine gependelte Abwehrreihe, nur der ballnächste schob heraus und die anderen Spieler schoben zusammen und präsentierten sich wie eine Quasi-Dreierkette. Dieser aus der Viererkette rückende Spieler war zumeist einer der Außenverteidiger, der den gegnerischen Angriff verzögern sollte. Die Fünferreihe des Mittelfelds rückte zurück und es konnte wieder mit dem Außenstürmer auf der Flanke gepresst werden. Somit liefen die Polen in der Defensive in einem 4-5-1 mit flacher Fünf und enger Viererkette auf, ohne ultradefensiv oder rein destruktiv anzutreten.

Im Spielaufbau zeigten sie sich sogar modern, indem die Innenverteidiger extrem breit agierten. Einer der Mittelfeldspieler ließ sich zurückfallen und die Außenverteidiger schoben weit nach vorne, was schnelle Angriffe mit Absicherung ermöglichen sollte. Die anderen beiden Mittelfeldspieler boten sich in den Halbpositionen an und stellten eine weitere Passoption neben dem Außenstürmer. Das Ziel war es, eine Seite zu überladen und Russlands Pressing auszuhebeln. Da dies nur vereinzelt stattfand, konnten relativ wenige Chancen durch diese Spielweise herausgespielt werden. Ohnehin zeigten sich die Russen auch gegen Konter gut eingestellt. Mit verschiedenen Formationen neutralisierten sie die gegnerischen Angriffsbemühungen und konnten defensiv solide stehen.

Die russischen Konter-Konterformationen

Da die Sbornaja mit zwei sehr hohen Außenverteidigern (insbesondere Zhirkov spielte sehr offensiv) auftrat, rückten die defensiven Mittelfeldspieler in der vorletzten Phase des Angriffs als Absicherung ein. Die vorletzte Phase des Angriffs bezeichnet hierbei jenen Zeitpunkt vor der Flanke oder erfolgreichem Dribbling auf der Seite, aber nachdem der Spieler seine einleitenden Laufbewegungen für die Aktion begann. Da auch Arshavin oft breit zu finden war, spielte Zyryanov sehr weit links.

die zwei Anti-Konterformationen der Russen - 2-4-1-3 und 3-2-2-3

Es entstanden teilweise 3-2-2-3-Formationen, in welchen unter anderem der ballnahe Halbspieler aufrückte und dahinter eine Doppelsechs mit schnittstellenverschließenden Aufgaben gebildet wurde. Die drei Angreifer wurden von einem Außenspieler unterstützt und es gab verschiedene Möglichkeiten für die Defensivformation: es konnte sich der Außenverteidiger fallen lassen und der Halbspieler des Mittelfelds ging ballfern oder verschob zum Ball hin.

Alternativ konnte einer der Sechser in der Abwehr bleiben, der ballferne Außenverteidiger zwecks Breite aufrücken und einer offensivere Variante gespielt werden. Dann entstanden auch 2-4-Formationen in der Abwehr, welche sich flexibel in der Spielerwahl für die betreffenden Positionen zeigten. Dadurch konnten die gegnerischen Konterspieler auf den Flügeln schnell abgefangen werden und Lewandowski befand sich in einem Viereck, was ihn von seinen Mitspielern isolierte. Diese verschiedensten Formationen, offenherzigen Spielweisen und kreativen taktischen Ideen besorgten letztlich ein intensives Spiel.

Zusammenfassung

  • Polen offenherzig, sucht den Schlagabtausch, bietet Lücken an und versucht dennoch schnell die Schnittstellen zu versperren
  • Sie agieren mit einer engen Viererkette und flachen Fünf, Lewandowskis Fähigkeiten in der Ballbehauptung sollen genutzt werden
  • Das Flügelspiel über Kuba und Obraniak fand statt, resultierte aber in vielen Halbchancen
  • Nach der Führung gingen die Polen von ihrem Pressing von 10m hinter der Mittellinie ab, sie spielten aggressiver
  • Russland hatte mit Kerzhakov einen Lückensucher, viel Rotation war die Folge
  • Die Sbornaja spielte ruhig und hatte mehr vom Ball, aber es fehlten oft die Räume und die Chancen kamen nur sporadisch zum Vorschein
  • Allerdings konnte das Team um Andrei Arshavin die gegnerischen Konter einige Male mit taktischer Intelligenz hervorragend abwürgen
  • Ihre darauffolgenden Konter sorgten für die interessante und intensive Partie mit vielen Momentumswechseln

Fazit

Andauernde Tiefenwechsel (Taktiksprech für „offener Schlagabtausch“) wurden aus den vielen bewusst geöffneten Löchern geboren und die daraus resultierenden Konter führten zu einem Hin und Her. Vorne hatten die Polen mit Lewandowski einen Spieler, der hervorragend weite Bälle behaupten kann und auf den Seiten unterschiedliche, aber immer mitaufrückende Spielertypen (und oft auch Boenisch), die für Spektakel sorgten. Bei den Russen waren es neben dem spielintelligenten Zentrum und Torschütze Dzagoev auch Kerzhakov als Lückenfüller, der gefährlich aber gleichermaßen ineffizient war. Arshavin als Raumnutzer hatte zahlreiche Ballkontakte, die gefährlich wirkten, aber zu selten waren sie es auch. In seiner Entscheidungsfindung kam er mit der kompakten 4-5-Defensive der Polen nicht zurecht und wirkte geistig zu behäbig, wobei er seine einmaligen Fähigkeiten ansatzweise aufblitzen ließ. Das Unentschieden ging somit in Anbetracht der Stärken und Schwächen in Ordnung.

DeepBlue 13. Juni 2012 um 11:09

Ich muss dazu noch eine Anmerkung los werden. Die Polen sind nach Balleroberung viel zu zaghaft – fast ängstlich – aufgerückt, so dass nie eine Überzahlsituation im Konter gegeben war. Deshalb auch die wenigen Torchancen der Polen, weil Konter durch das zögernde Aufrücken nicht ausgespielt werden konnten. Teilweise standen dann 3 Polen vor 6 – 7 Russen und der Angriff war mangels Abspielalternativen gleich wieder verpufft.

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EvS 13. Juni 2012 um 17:33

naja ich denke mal dass die polen da einfach ziemlich respekt vor dem vertikalspiel der russen hatten und ihnen das risiko einfach zu groß war

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Jan Furtok 13. Juni 2012 um 10:48

Dank besagter Tiefenwechsel, der großen Bedeutung des Spiels v.a. für Polen sowie starker EM-Atmosphäre im Stadium war es ein mitreissendes Spiel, in dem ich Russland als (potentiell) klar stärkere Mannschaft wahrgenommen habe. Auch wenn sich Polen das Remis mehr als verdient hat (großartige 2. Halbzeit), hätte Russland das Spiel zum einen auch schon in der ersten Halbzeit entscheiden bzw. mind. einen Elfmeter bekommen können, zum anderen hätten sie in der zweiten Halbzeit durch engagierteres und konzentrierteres Auftreten einen zweiten Treffer erzielen können.

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EvS 13. Juni 2012 um 10:40

ich muss euch wirklich loben für eure bisherige em-berichterstattung. gefällt mir sehr, sehr gut. allerdings hab ich eine kleine bitte. und zwar die animated gifs…könnt ihr das nicht so machen, dass man sich durch die jeweiligen bilder klicken kann. mich lenkt das irgendwie immer vom text daneben ab wenn da was bewegtes daneben ist.

ansonsten alles top und weiter so! seit es euch gibt macht mir fußball wieder richtig freude.

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LeFlo777 13. Juni 2012 um 16:45

Ja, das mit der Bilderfolge ist eine sehr gute Idee. Bitte umsetzen!

Ansonsten: ich liiiieeeebe eure Seite. Ich habe schon sehr lange auf so etwas gewartet! Danke für die Analysen, die meinen Fußballhorizont erheblich erweitert haben.

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sesso03 13. Juni 2012 um 08:42

vielen dank für die analyse; vorallem gefällt mir, dass sie auch etwas kürzer geraten, da verliert man nicht so schnell den faden und ihr beschränkt euch aufs wesentliche…

aber wie krass ist denn dieser arshavin bitte… für mich der spieler der em; sollte es gegen D im 1/4 gehen, werden wir uns warm anziehen müssen.. was wurde nicht geschrieben über iniesta, xabi, ribery, özil, götze, schweinsteiger… und dann kommt dieser typ und spielt so dermaßen intelligent… hammer… ich hab dann gestern weniger den ball als diesen kerl verfolgt, was für ein stellungsspiel, was für eine spielintelligenz…

da solltet ihr wohl kommende saison auch mal die russ. liga ins auge fassen; die scheinen einen ordentlichen ball zu spielen.

ansonsten das obligatorische lob an eure seite; eine für mich sehr wohltuende (weil einzige) alternative zur boulevardjournalie alà kik (er)…danke dafür

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Wettenkasper 13. Juni 2012 um 08:38

Ich bin sehr enttäuscht von Arshavin. Er hat so viel Talent und Potenzial, aber auch er (wie so viele klasse Spieler) ist gegen Polen viel zu häufig zu „eigennützig“ gewesen – fand selten den richtigen Moment, seine Mitspieler einzusetzen.
Für mich sind sehr vielversprechende Konter an seinen Dribblings gescheitert, weil er den Ball verlor. Besonders ärgerlich beim Tor zum 1:1 von Blaszczykowski, als Arshavin einen schlechten Ball gespielt hat und so Polen die Chance zum Gegenkonter gab. Ich freue mich für die Polen, aber ich finde Russland hätte dieses Spiel gewinnen müssen.

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