Hertha BSC Berlin – Borussia M’Gladbach 1:2

Das Aufeinandertreffen zweier taktisch sehr interessanter Teams war sicherlich eines der Highlights an diesem Wochenende für Taktiktafel-Gourmets. Die Gladbacher trafen auswärts auf die Hertha, trainiert von Markus Babel, welcher sich ohne Frage ein interessantes Duell mit Lucien Favre liefern würde und letztendlich gewann der Gladbacher Trainer einmal mehr ein solches Duell knapp.

Wechselwirkung der jeweiligen Formationen

Grundformationen zu Beginn

Die Gäste traten mit ihrem bewährten 4-4-2-System an, in welchem Marco Reus vor Mike Hanke das Sturmduo bildete. Der von den Bayern umworbene Starspieler der Gladbacher war somit der schematisch höchste Spieler und es wird immer deutlicher, dass Lucien Favre ihn zu einem Stürmer umfunktionieren möchte. Hanke kommt ihm da sehr gelegen, da er einerseits als gelernter Angreifer selbst Torgefahr versprühen kann, aber vielmehr durch seine bescheidene Art und sehr lauffreudige Spielweise das Loch, welches in einem 4-4-2 zwangsläufig zwischen Mittelfeld und Angriffsreihe entsteht, mit seiner Athletik füllen kann und dadurch eine der größten Schwächen in dieser Formation abdeckt. Besonders die Außen profitieren davon, da sie ohnehin durch die Außenverteidiger und das defensive Zentrum im Offensivspiel etwas alleine gelassen werden, durch Reus und eben Hanke allerdings die meiste Zeit eine Anspielstation trotz numerischer Unterlegenheit finden können. Dieses Mal bildeten Arango und Herrmann die Flügelzange, ihre Aufgabe war es zwar einerseits das Spiel breit zu machen, doch andererseits versuchten sie so oft wie möglich Marco Reus einzusetzen und dessen Dynamik sowie Ballkontrolle zu nutzen, da er diese Lochpässe extrem schnell verarbeiten und Richtung gegnerisches Tor ziehen kann. Dahinter sichern Roman Neustädter (abermals mit 12km Laufleistung) und Havard Nordtveit den Raum vor der Abwehr, während die Viererkette wie üblich mit eher defensivorientierten Außenverteidigern, nämlich Jantschke und Daems, sowie den Innenverteidigern Dante und Stranzl gebildet wurde. Man versuchte defensiv sicher zu stehen, doch die Herthaner kamen zu Beginn des Spiels mit ihrer mutigen Spielweise schnell zu einem Übergewicht, doch die Borussen hielten dagegen.

Herthas Vorteil war unter anderem ihre schematische Formation, sie traten zwar ebenfalls mit einem 4-4-1-1 an, doch die Außen und das offensive Zentrum waren offensiver und flexibler ausgerichtet, des Weiteren spielten Ottl und Niemeyer etwas verschoben, dadurch konnte Ersterer sich im zweiten Drittel vermehrt als Anspielstation anbieten. Vor dieser Doppelsechs traten Raffael und Lasogga als zentrale Stürmer an, während Rukavytsya und Ramos als Außenspieler fungierten und einerseits das Spiel breit machen sollten, aber ebenso ins Zentrum zogen, versuchten dort den Raum eng zu machen und ein schnelles Kombinationsspiel nach vorne aufzuziehen. Kobiashvili und Lell auf den Außenverteidigerpositionen beteiligten sich sehr gut am Kollektivspiel und sorgten nicht nur für eine enge und fluide Viererkette, sie verließen ihre Positionen, um im Mittelfeld auszuhelfen oder sich in die Offensive einzuschalten, während Mijatovic und Franz sich zumeist auf die klassischen Aufgaben eines Innenverteidigers konzentrierten.

Herthas Viererreihe – eine Abkehr von der Viererkette?

Besonders auffällig war bei den Berlinern ihre Defensivarbeit, denn sie versuchten mit einer möglichst einfachen und dennoch komplexen Herangehensweise den one-touch-football der Gladbacher zu unterbinden. Diese unorthodoxe Spielweise äußerte sich dahingehend, dass man eine Mischung aus Mann- und Raumdeckung praktizierte, was nichts anders bedeutet, als eine lose Zuteilung zu einem Gegenspieler, in dessen Nähe man Raumdeckung praktizieren sollte.

Praktisch wirkte diese Art zu spielen allerdings sehr modern und innovativ, die Innen- wie Außenverteidiger verschoben sowohl eigenständig und isoliert von ihren Mitspielern in der Abwehr in die Breite oder Tiefe, verfolgten ihren Gegenspieler oder agierten tief und einige Male versuchten sie antizipativ den Ball in aufgerückter Position zu erobern, indem sie den Gegner gar nicht an den Ball kommen lassen wollten. Die Gefahr an dieser Spielweise ist aber offensichtlich, erobert man den Ball nicht und die beiden Sechser haben nicht richtig verschoben, dann öffnen sich sehr große Löcher im eigenen Defensivverbund und der Gegner kann mit schnellen Vorstößen relativ leicht zu qualitativen Torchancen kommen, des Weiteren ist die defensive Ordnung nachhaltig gestört, wie man beispielsweise beim zweiten Tor von Marco Reus‘ beobachten konnte, der relativ frei im Rücken der Abwehr den Abpraller verwerten konnte.

Das Zentrum

Ein wichtiger Punkt in diesem Spiel war auch das Zentrum des Spielfelds, wo die Kontrolle extrem wichtig war, da beide Teams einerseits mit einer Doppelsechs, andererseits mit stark defensivorientierten Stürmern und tiefen Außenverteidigern spielten (die Hausherren etwas offensiver) und deshalb die Außenbahnen relativ dicht waren, obwohl natürlich einige Flanken und Grundlinienvorstöße zu sehen waren. Dennoch waren die Halbpositionen und das Zentrum einmal mehr der Schlüssel zum Sieg, die Kontrolle über diesen Bereich wird im modernen Fußball ohnehin immer wichtiger, weil der Weg zum Tor kürzer ist und mehr Spieler in diesem Spielfeldbereich gebunden sind. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass die Flügelspieler beider Teams sich stark mittig orientierten und versuchten ihre Mitspieler in Szene zu setzen oder selbst in die Schnittstellen zwischen Innen- und Außenverteidigung des Gegners zu starten.

Marco Reus, eine neue falsche Neun?

Ein weiterer Punkt offenbarte sich nach diesem Spiel – ein weiteres Mal trat Marco Reus als vorderster Mittelstürmer auf, es scheint nun, als ob er nicht nur als hängender Stürmer eingeplant sein könnte, sondern sogar vielmehr als der primäre Endverwerter des Gladbacher Offensivspiels. Falls er diese Rolle noch weiter verbessert, kann er sich zu einer falschen Neun entwickeln, da er sämtliche wichtigen Attribute dieses Spielertypus in sich vereinigt: hohe Torgefahr, starke Ballkontrolle, unglaubliche Dynamik und Handlungsschnelligkeit. Der Vorteil für eine defensivorientierte Mannschaft wie Gladbach liegt besonders darin, dass er im Notfall nicht nur den Alleinunterhalter vorne machen kann, sondern auch bei einem ultradefensiven System sehr tief agieren und sich am Spielaufbau beteiligen kann, ohne im letzten Drittel zu fehlen.

Eine ähnliche Rolle besitzt zum Beispiel Lionel Messi, der im Mittelfeld aushilft und den Ball nach vorne leitet, um am Ende des Spielzuges wieder den Ball um den Strafraum zurück zu erhalten – wenn natürlich auch unter gänzlich anderen Voraussetzungen als dies bei Marco Reus der Fall wäre. Für die Borussen ist es aber wichtig, dass ihr spielerisch stärkster Spieler im Fokus des Spielaufbaus steht, da er nicht nur im Normalfall die meisten Tore erzielen kann, sondern ebenso bei den Attributen, welche nicht statistisch erfasst werden können (öffnende Pässe, off-the-ball-Läufe,  usw.), seine Stärken möglichst oft ins Spiel bringen kann.

Fazit

In einem unterhaltsamen Spiel gewannen die Gladbacher dank zweier Tore vom Shootingstar Marco Reus und bezwangen die Gastgeber, welche insbesondere zu Beginn gut mitspielten, aber letztlich in puncto Ballbesitz und der Qualität vor dem Tor, also der Chancenverwertung, unterlegen waren. Reus spielt mittlerweile eine ähnliche Position wie Lionel Messi, allerdings agiert beim kleinen Argentinier die gesamte Mannschaft höher und er hat generell mehr Ballkontakte – im Prinzip sind ihre Positionen aber sehr ähnlich. Wichtig ist allerdings, dass beide Mannschaften eine sehr hohe Laufbereitschaft (beide über 115km) und moderne Spielweise zeigten, welche einen positiven Blick in die Zukunft erlaubt.

MW 6. November 2011 um 16:59

Sehr, sehr gelungener Artikel! Vor allem interessant ist die zentrale Rolle von Marco Reus, der sich als unersetzbar erweist. Doch das interessante daran sind auch meiner Meinung nach Parallelen zu den momentanen Top-Mannschaften in Europa, die ihr Spiel an einen Spielertyp orientieren: Silva bei City, Messi bei Barca, Rooney bei United etc. Natürlich ist die Orientierung an einen einzelnen Spieler sehr riskant, aber es kann auch einen hohen Ertrag bringen.

Eine Frage hab ich aber noch: Was sind off-the-ball Läufe?

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RM 6. November 2011 um 18:41

Danke – zu dieser Thematik mit der Orientierung ist sogar ein Artikel geplant.

(effektive) Off-the-ball-Läufe = der Spieler bewegt sich ohne den Ball, versucht aber dabei entweder sich oder seine Mitspieler freizumachen.

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vastel 7. November 2011 um 12:27

@MW:

Thomas Müller ist z.B. auch noch ein hervorragender off-the-ball-Läufer! Einfach mal drauf achten wie er sich ohne Ball bewegt und damit Räume schafft bzw. Gegenspieler bindet.

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